Seit Ende September bin ich Halsatmer. Nein, das sind leider keine abgefahrenen Aliens, die Perry Rhodan zu ärgern versuchen („Großadministrator Rhodan, Sir, die Kriegsflotte der Halsatmer durchquert gerade den Beta-Gamma-Quadranten!“), sondern Menschen, denen der Kehlkopf entfernt wurde und die jetzt durch eine Kanüle im Hals atmen und sprechen.
Vier Wochen vor der OP war bei mir ein Kehlkopfkrebs entdeckt worden, der, obwohl ich außer etwas Heiserkeit nichts von ihm gemerkt hatte, sich schon ganz schön breit gemacht hatte.
Unser Gesundheitssystem ist nicht dabei, zu implodieren, es ist bereits vor fünf bis zehn Jahren implodiert. In seinen rauchenden Trümmern finden Rückzugsgefechte statt.
Die Planung war eigentlich, dass ich ca. 14 Tage nach der Kehlkopf-OP entlassen werden sollte, um dann den verbliebenen Krebszellen mit ambulanten Bestrahlungen zu Leibe zu rücken. Das ging leider schief, denn 9 Tage nach der OP wurde ich mit einer üblen Lungenentzündung auf die Intensivstation verlegt, wo ich vier Wochen bleiben musste. Diese Zeit war, freundlich ausgedrückt, schwierig.
In der langen Zeit im Krankenhaus hab ich viel gelesen. Ich kann besonders empfehlen: Die Xavier-Kieffer-Krimis von Tom Hillenbrand, sehr gut gemachte Fress-Krimi-Unterhaltung mit einem Luxemburger Deftigkeiten-Koch als Spürhund. Bestens geeignet, um Bruno-Entzugserscheinungen zu bekämpfen.
Wobei man das auch mit dem Meister selbst machen kann, „Bruno – Chef de Cuisine“ ist eine für Martin Walkers Hardcore-Fans, die die schwächeren Stories verzeihen, sehr amüsante Kurzgeschichtensammlung, bei denen der beste Polyp des Perigord meist in Herdnähe ermittelt.
„Holly“ – Stephen King läuft nochmal zu großer Form auf und schafft es vor allem, bis zum Schluss eine straffe Dramaturgie durchzuhalten (was sonst bei ihm doch recht häufig ein Problem ist).
Ziemlich enttäuscht war ich von Kehlmanns hochgelobtem „Lichtspiel“: etwas mehr Punch und ein deutliches Zurückfahren der aufdringlich gedrechselten Kunstfertigkeit hätten für eine anregendere Lektüre gesorgt.
Vergessen Sie ganz einfach den Scheiß mit Normalgewicht, Idealgewicht, Übergewicht. Beinahe jeder Arzt hat mir vor meiner Erkrankung gesagt, ich müsste sofort dringend abnehmen, sonst würde ich tot umfallen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus kam von meiner HNO-Ärztin: „Seien Sie froh, dass Sie Reserven hatten. Der normale, hagere Tumorpatient hätte das nicht überlebt.“
Der Krebs hat mich nicht ganz unerwartet getroffen, er ist seit Generationen ein unguter Bekannter in meiner Familie. Meine Mutter und ihre 3 Brüder sind daran gestorben und meine beiden Brüder ebenfalls. Unsere Schwestern hat er wenigstens verschont, aber dass er mich erwischen würde, war doch eher wahrscheinlich.
Natürlich hab ich auch gestreamt. Empfehlen möchte ich:
„Guy Ritchie’s Der Pakt“ – für Ritchie untypisch unironisches, in Afghanistan angesiedeltes Action-Adventure. Trotz des vorhersehbaren Plots extrem spannend, handwerklich perfekt.
„Only Murders in the Buildung“ – ganz großer Spaß, besonders die dritte Staffel.
Nachdem ich wieder so weit bei Kräften war, dass ich die Intensivstation verlassen konnte, wurden die Reste vom Krebs wegbestrahlt. Die Bestrahlungen hab ich erstaunlich gut verkraftet, allerdings hat es mir vor vierzehn Tagen das Geschmacksempfinden komplett weggezappt. Süß, sauer, bitter, salzig, umami… findet alles ohne mich statt, ich kennen nur noch fade. Damit wird Essen nach Stillen des ersten Hungers zur Schwerstarbeit. Ich sehe Rindviecher, die den ganzen Tag Gras malmend auf der Weide stehen, mit völlig neuen Augen.
Was mich überrascht und gefreut hat: dass so viele Menschen meine sonntäglichen Splitterbrötchen vermisst haben. Danke nochmal für die Anerkennung und den Zuspruch.
Ich spreche derzeit mit einer ruppigen, uncharmanten Darth-Vader-Stimme. Ich hoffe, dass ich das noch mit Logopädie-Lektionen verbessern kann. Immerhin erstaunlich, dass man 40 Jahre später immer noch mit „Ich bin dein Vater, Luke“ punkten kann.
Insgesamt war ich beinahe zwei Monate lang im Krankenhaus, wo ich von extrem kompetenten Ärzten und im wahrsten Sinne des Wortes aufopferungsvoll arbeitenden Pflegerinnen und Pflegern ausgezeichnet betreut wurde. Das durch chronische Unterfinanzierung verursachte Organisationschaos des Ganzen war jedoch schwer erträglich und hat mich im Durchschnitt zwei- bis dreimal pro Tag sehr wütend gemacht. Die Zustände in unseren Krankenhäusern (und an anderen, auf staatliche Gelder angewiesenen Orten) sind eine Schande und sollten jede Partei, die in den letzten 20 Jahren dazu beigetragen hat, unsere einstmals vorbildliche Infrastruktur derart runterzurocken, zur Ein- und Umkehr zwingen (frommer Wunsch, ich weiß). Hier haben wir nämlich die Ursache für den Erfolg der populistischen Parteien: Dass Bürger, die auf die vom Staat bereitgestellte Infrastruktur angewiesen sind, tagtäglich mit unhaltbaren Zuständen konfrontiert werden. Und sehen, dass von den zuständigen Politikern nichts ernsthaft unternommen wird, um diese Zustände zu verbessern. Das macht wütend, und Wut ist gut für die Weidels und Wagenknechts. Es ist nicht die Debattenkultur auf social media, die die Arschlöcher stark macht, es ist der kaputte Alltag der Menschen.
Die Bestrahlungen begannen, wie gesagt, mit ein paar Wochen Verspätung, mittlerweile habe ich die letzte hinter mir, der Krebs ist erstmal Geschichte. Den ersten Satz hab ich also gewonnen. Ob das Match noch weitergeht, wird man sehen.
Möglicherweise hat an der Nahtstelle der Generationen eine Zeitbombe zu ticken begonnen: ältere Pflegekräfte sind derzeit gar nicht gut auf junge Pflegerinnen und Pfleger zu sprechen, die auf Teilzeitarbeit bestehen: „Was denken die sich? Wenn alle Teilzeit machen, können nicht mehr alle Patienten versorgt werden. Es bleibt wieder an uns Alten hängen…“
Den größten Dank dafür, dass es mir jetzt wieder gut geht, schulde ich aber weder der Ärzteschaft noch der Pflegerei, sondern der besten, geduldigsten Gemahlin von allen, die in der ganzen, elend langen Zeit jeden Tag in der Charité auftauchte, grenzenlosen Optimismus und Lebensmut versprühte, meine meist miese Laune ertrug und aufhellte, mich mit Leckerbissen und Kaltgetränken (spätestens nach zwei Wochen Krankenhaus lernt man lauwarme Getränke zu hassen) versorgte und mich mit unendlicher Liebe und Zuwendung tagtäglich ein Stück auf die Genesung hinschob. Ohne sie, die seit über 40 Jahren die Sonne in meinen Leben trägt, wäre ich vielleicht noch im Krankenhaus oder ganz woanders.
Kaum war ich dem Krankenhaus entronnen, habe ich mich wieder dem T-Shirt-Design gewidmet. Diese Kreation macht gleichzeitig profunde Aussagen über meine sportlichen Vorlieben und mein Sozialverhalten
Während ich das hier aufschreibe, fällt mir auf, dass vieles dramatischer klingt, als es war. Man bekommt eine unschöne Diagnose, tut, was man tun muss, um zu überleben, liegt dann ein paar Wochen im Krankenhaus und hofft das Beste. Mehr war nicht. Life goes on.