Wie Sport riecht

Tenniskampioenschappen Nederland, Tom Okker (l) en Jan Hajer (r) .*16 augustus 1964 Foto: Eric Koch für Anefo unter 1.0 Verzicht auf das Copyright

Dieser Tage ist ein Eau de Toilette auf den Markt gekommen, dass angeblich nach Fußball riecht, nach der Bundesliga. Das ist natürlich Quatsch. Fußball riecht nicht mehr. Fast alle Sportarten haben ihren Geruch verloren.

Als ich anfing, Sport zu treiben, damals, in de 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. hatte Sport noch einen unverwechselbaren, unvergesslichen Geruch. Sport roch damals wie ein Geschäft namens „Sport-Beyer“ in meiner Heimatstadt Eschwege, in der Marktstraße.

„Sport-Beyer“ war damals der Fixpunkt eines jeden Sport treibenden Menschen in Eschwege und Umgebung. Dort kaufte man die Ausrüstung und die Klamotten. Meine ersten Fußballschuhe (Adidas „Uwe Seeler“, welche denn sonst?), den ersten Fußball aus Leder, den ersten Tennisschläger (Dunlop Maxply), den Tischtennisschläger, den auch Eberhard Schöler benutzte, ein bis zwei Paar Tennisschuhe (Romika) pro Saison, regelmäßig neue Tennisbälle, regelmäßig neue Sportschuhe für die Turnhalle, den letzten Tennisschläger, den mein Vater mir gekauft hat (Wilson T20001), später dann alle 3 bis 6 Monate neue Basketballschuhe, und natürlich Trainingsanzüge, Sportklamotten ohne Ende … ja, all das und wohl noch viel mehr hab ich aus dem Ladengeschäft in der Marktstraße getragen. Meine Sportbegeisterung und ich waren meinen Eltern lieb und teuer.

Und jedes Mal, wenn ich bei Sport-Beyer vorbeischaute, hat mich der Geruch umgehauen, der einen ansprang, wenn man die Ladentür aufgemacht hat. Ein ganz eigene, kraftvolle Kombination aus Leder, Baumwolle, Gummi, Zelluloid, Filz, Holz … Damals waren Sportgeräte noch nicht aus olfaktorisch neutralem Kunststoff, sie rochen deutlich nach den Materialien, aus denen sie hergestellt worden waren. Und diese Geruchsmischung gab’s nur in dezidierten Sportgeschäften, weil sich nur hier die Gerüche aller Sportarten in einzigartiger Weise vermischten. Wobei eine Komponente – natürlich – fehlte: In Sportgeschäften roch es niemals nach Schweiß. Diese markante Duftnote musste man selber hinzufügen, auf dem Platz oder in der Halle. Sportgeschäfte verkauften auch vom Geruch her die reine Verheißung. Die Mühen der Ebene begannen, wenn Herrn Beyers Registrierkasse geklingelt hatte.

Sport-Beyer gibt’s schon lange nicht mehr, und dieser Geruch, der damals fast allen Sportgeschäften zu eigen war, ist auch verschwunden. Das ist auch ganz gut so, denn die modernen Sportgeräte und -klamotten aus Kunststoff sind deutlich praktischer und viel einfacher zu handhaben, als das Zeugs, mit dem unsereins sich damals rumgeschlagen hat. Der Geruch allerdings… ja, der war schon ziemlich speziell und angenehm. Unvergesslich. Doch, das war eine schöne Zeit, als Sport noch gerochen hat.

Die letzte Buchhandlung vor dem Internetz

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Ich nehme an, dass er mich nicht gemocht hat. Genau weiß ich es nicht, dazu haben wir nicht genug miteinander geredet. Aber der gequälte Gesichtsausdruck, den er mir zeigte, wenn ich seine Buchhandlung betrat, sprach Bände: Er wusste, dass es jetzt schwierig werden würde. Da kam wieder der Idiot, der Bücher bestellen würde, die er nicht mochte. King. Pratchett. Irgendwelchen Spannungs-Mumpitz, der unter seiner Buchhändler-Würde war.

Die Rede ist von Herrn A., dem Inhaber einer kleinen Buchhandlung in Kreuzberg, in der ich ca. zehn Jahre lang meine Lektüre einkaufte. Herr A. war bzw. ist hoffentlich noch ein Exzentriker, der die meisten seiner Kunden deutlich spüren ließ, dass sie ihm als literarische Sparringspartner nicht gewachsen waren. Besonders Neukunden empfing er gern mit ausgesuchter Feindseligkeit. Ich hab einmal mitbekommen, wie eine gutgekleidete Dame mittleren Alters (so sagte man damals) ahnungslos seinen Laden betrat und fragte, ob er den neuen Simmel2 da habe. „Nö“, maulte er missmutig zurück. Die Dame wähnte sich nach wie vor in einer normalen Buchhandlung und fragte, ob er ihr das gewünschte Buch bestellen könnte. „Nein!“ bellte er als Antwort. Und auf ihre schüchterne Frage, warum er diese zur Kernkompetenz eines Buchhändlers gehörende Aufgabe nicht erfüllen wollte, verwies er sie mit einem garstigen „Ist mir einfach zu blöd!“ an ihren Platz, der sich außerhalb der Buchhandlung befand. Das war übrigens eins der wenigen Male, an dem Herr A. mich zum Lachen brachte.

Warum bin ich trotzdem immer wieder zu Herrn A. gegangen? „Weil’s um die Ecke war“, ist natürlich ein gewichtiges Kriterium. Das andere war das Verzeichnis lieferbarer Bücher, das bei Herrn A. mitten im Laden auf einem Tisch lag, zur gefälligen Benutzung durch die unerwünschte Kundschaft. In Zeiten vor dem Internet kam man als normaler Buchkäufer an das Verzeichnis lieferbarer Bücher, ein halbjährlich aktualisiertes, riesiges Buch in zwei Bänden, nicht ran, denn die Buchhändler hüteten es wie den heiligen Gral: Nur sie dürften daran nachschlagen, um dem Kunden dann mitzuteilen, dass das von ihm gewünschte, hochinteressante Buch aus einem kleineren Verlag vergriffen oder gerade nicht lieferbar war. Meist war es das gar nicht. Der Buchhändler oder die Buchhändlerin hatten bloß keine Lust, eine Bestellung außerhalb der bequem ausgetretenen Grossistenpfade zu tätigen. Wie Monopolisten eben so sind.

Herr A. war anders. Der kontaktierte gern obskure Kleinverlage3 und wickelte die übrigens eigentlich vollkommen unkomplizierten Bestellungen mit gelangweilter Nonchalance ab. Nicht zuletzt, weil ihm die widerspruchslose Bestellerei zahllose überflüssige Debatten mit der geistig nicht satisfaktionsfähigen Kundschaft ersparte. Deshalb stand bei ihm das VLB auch mittig im Laden: Sollten die ungeliebten Kunden ihren Schund doch selber nachschlagen! Auf diese Weise konnte er kommod an seinem Tischchen sitzen, sich heftig rauchend in vollkommen ungenießbare Bücher vertiefen oder mit seiner Schwerintellektuellen-Kamarrilla auszutauschen, die sich regelmäßig bei ihm traf. Doch, Herr A. hatte einige Freunde, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, geistige Flaneure, die die Niederungen des Kommerzes mieden und daher bei ihm meist keine Bücher kauften, sondern nur Kaffee und Zigaretten schnorrten.

Ich habe viele Stunden im Laden von Herrn A. verbracht und im Verzeichnis lieferbarer Bücher rumgesucht, immer bemüht, ihn möglichst wenig zu stören. Dabei bin ich auf zahlreiche Autoren und Bücher gestoßen, auf die ich ohne diese Recherchemöglichkeit niemals gekommen wäre. Dafür bin ich ihm durchaus dankbar, aber, ganz ehrlich, sein misstrauisch-zweifelndes Starren war nicht immer leicht auszuhalten. Deshalb begrüßte ich dieses neuartige Internetz durchaus frenetisch, weil plötzlich das VLB dort zu finden war. Kaum hatte ich eine AOL-CD in meinen Rechner geschoben, war ich auch schon Kunde beim „ABC Bücherdienst„, der mir sogar englische Bücher in nullkommanix herbeischaffen konnte.

Ein paar Jahre später hat Herr A. dann seine Buchhandlung geschlossen. Eigentlich wären wir ja ein gutes Team gewesen: Ein Buchhändler, der keine Kunden mochte, und ein Kunde, der keine Beratung wollte. Aber es hat nicht funktioniert, mit oder ohne Internet. Es ist grotesk, aber es ist wahr: Manchmal vermisse ich ihn. Aber wirklich nur für ein paar Sekunden.

 

 

Der Akkord

Mein Leben teilt sich in die Zeit vor dem Akkord und nach dem Akkord. Die Rede ist von dem einleitenden Gitarrenakkord von „A hard day’s night“, gespielt von George Harrison auf einer 12seitigen Rickenbacker4 Es war der erste Beatles-Song den ich hörte, und er hat mein Leben verändert.

Ich war damals acht Jahre alt und hasste es, zum Friseur zu gehen. Denn der Friseur, zu dem man mich alle vier bis sechs Wochen schickte, im „Salon S.“ in der Friedrich-Wilhelm-Straße, ließ mir immer die abgeschnittenen Haare in den Nacken rieseln, wo sie ein fieses Juckwerk anrichteten. Ich versuchte mich, wann immer es ging, vor dem Friseurbesuch zu drücken, vergeblich. Mein Vater hielt auf Ordnung, der Junge musste mit anständigem Haarschnitt zur Schule gehen.

Dann las ich in unserer Lokalzeitung, der Werra-Rundschau, einen Artikel über „Pilzköpfe“. Damit waren Mitglieder einer englischen Musikgruppe namens „The Beatles“ gemeint, die im Verweigern von Friseurbesuchen offensichtlich wesentlich erfolgreicher waren als ich. Diese Musiker begannen, mich zu interessieren. Leider konnte ich mir die Musik, die diese Gruppe machte („Beat-Musik“, lt. Werra-Rundschau) nicht anhören. Über die Radioapparate unseres Haushalts waren nur der Hessische Rundfunk und die infamen Ost-Sender zu empfangen, der riesige Funkschatten, den der Hohe Meißner warf, verhinderte den Empfang von Sendern wie Radio Luxemburg, die dieser neuen Musik aufgeschlossener gegenüberstanden als der HR, der von morgens bis zu meiner (frühen) Bettzeit nur schwer erträgliche Schlagermusik absonderte.

Dann entdeckte ich im Schaufenster von „Musikhaus Schneider“5 diese Platte.

Die waren tatsächlich viel länger nicht beim Friseur gewesen als ich. Die Platte musste ich haben, klar. Aber damals kostete eine Langspielplatte bei Frau Schneider (und überall) satte 22 18 DM7. Doch dann dachte ich ein wenig nach. Ich war – als Sohn in einem gut situierten bürgerlichen Haushalt – doch nicht ganz mittellos. Ich bekam immer wieder ein bisschen was zugesteckt, Geld für ein Eis oder eine Tüte Waffelbruch… Wenn ich anfing, das zu sparen, anstatt es sofort wieder auszugeben? Wenn ich 2 Mark im Monat zurücklegte, hätte ich nach elf Monaten die Platte. Eine lange Zeit, aber das Projekt bekam den Anschein von Machbarkeit. Wenn ich vielleicht noch etwas dazu verdienen könnte?

Am nächsten Morgen trat ich mit meiner konsternierten Mutter in durchaus komplexe Verhandlungen, die Tarife für meine freiwillige Mitwirkung in Haushaltsangelegenheiten über das übliche Maß hinaus festlegten8. Meine Mutter erwies sich als Unternehmerstochter als die erwartet harte Verhandlungspartnerin, ich zog als unerfahrener Verhandler erwartbar den kürzeren, aber – um das ganze abzukürzen – wenn ich mich richtig reinhängte, könnte ich „A Hard Day’s night“ in sechs Monaten kaufen.

Ich schaffte es in fünf. Frau Schneider staunte nicht schlecht, als ich eine imposante Menge Kleingeld auf ihrem Tresen deponierte, und, nachdem sie mein Erspartes zweimal nachgezählt hatte, händigte sie mir das erste Beatles-Album meines Lebens aus. Ich trug meinen Schatz nach Hause, schaltete die „Musik-Truhe“9 im Wohnzimmer ein, legte die Platte auf und senkte den Tonabnehmer ab. Dann kam der Akkord.

The Beatles - A Hard Day's Night - Official Video

Er traf mich vollkommen unvorbereitet und stellte meine Welt in einer Hundertstelsekunde auf den Kopf. Bis ich diesen Akkord gehört hatte, war ich ein kleiner Junge gewesen, der darauf gedrillt wurde, still zu sein, jederzeit zu gehorchen und sich unterzuordnen. Georges Rickenbacker lehrte mich im Bruchteil einer Sekunde, dass es vollkommen okay war, laut zu sein. Unangepasst. Jung. Frech. Dass es mein Leben war, und dass das nicht unbedingt das sein musste, was mein Vater für mich vorgesehen hatte. Und dass ich in der grandiosesten aller Zeiten lebte, in der eine fantastische Musik wie diese gespielt wurde. Mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Mein Vater war ein ziemlich harter Knochen, mit dem ich in Zukunft einige ziemlich harte Kämpfe auszufechten hatte. Aber ich war siegesgewiss: Ich hatte ja die Beatles an meiner Seite10.

Eine Woche später nahm ich im „Salon S.“ im Friseurstuhl Platz und sagte: „Einmal Kämmen, bitte!“

Einfache Wahrheit

 

Eine der wertvollsten politischen Lektionen meines  Lebens erhielt ich vor beinahe 30 Jahren, auf unserer Hochzeitsreise. Die beste, geduldigste Gemahlin von allen und ich verbrachten zwei wunderbare Wochen auf Antigua, lernten Tauchen, lagen in der Sonne und schauten uns die wunderbare Insel an, die damals politisch fest in der Hand der Familie Bird war. Vere Bird war lange Jahre Premierminister gewesen und hatte, als er über einen seiner zahlreichen Skandale gestolpert war, das Amt an seinen Sohn Lester übergeben, der die gleiche Politik der „aufgehaltenen Hand“ wie sein Vater betrieb. Die Käuflichkeit der beiden war legendär und inselweit bekannt. Außerdem logen sie ständig, dass sich die Balken bogen. Trotzdem pflegten sie die Wahlen verlässlich mit großem Vorsprung zu gewinnen, was mir nicht in den Kopf wollte.

Ich hatte mich während unseres Aufenthalts mit einem Tourist-Guide angefreundet, wir unterhielten uns angeregt über Gott und die Welt, und so fragte ich ihn einfach mal, warum denn die Birds auf Antigua immer wieder gewählt wurden, obwohl sie schon zigmal mit den Fingern in der Staatskasse erwischt worden waren. Seine Antwort war ebenso einfach wie verblüffend: „Natürlich wissen wir, dass die klauen. Sie tun aber auch was für Antigua. Bei denen von der Opposition wissen wir nicht, ob die vielleicht nur klauen.“

Diese einfache Wahrheit erklärt manches Wahlergebnis, damals und heute.

Der prägende Moment meiner Schulzeit

1963 marschierte ich mit meiner Zuckertüte im Arm in die Struthschule rein, 1975 ging ich mit dem Abiturzeugnis in der Tasche aus der Friedrich-Wilhelm-Schule wieder raus. In diesen 13 Schuljahren11 war ich, ehrlich gesagt, die meiste Zeit nur anwesend aber nicht bei der Sache. Schule eben. Das meiste, was mir in den Klassenzimmern der von mir besuchten Schulen mitgeteilt wurde, habe ich mir gar nicht erst zu merken versucht. Einen Augenblick allerdings gab es, der sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hat, einen einzigartigen Moment, in dem mir schlagartig klar wurde, dass mir hier nicht irgendein Schulwissen-Quatsch vorgekaut, sondern eine spielentscheidende Lebensweisheit vermittelt worden war.

Es war die erste Chemiestunde in der Obertertia, wir saßen wenig aufnahmefroh im soeben für einen horrenden Betrag renovierten Chemiesaal der FWS, als – leider pünktlich wie immer – unser Chemielehrer Dr. Zöll hereinkam. Routinemäig griff er neben die Tür, um den Lichtschalter zu betätigen. Aber der gewohnte, ihm zweifellos liebgewordene schwarze Drehschalter war durch einen weißen, großflächigen Kippschalter ersetzt worden. Dr. Zöll beäugte diese ultramoderne Vorrichtung misstrauisch wohl eine ganze Minute lang und ging schließlich das Risiko ein, den Schalter zu betätigen. Mehrfach. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Schien zu funktionieren … doch unvermittelt hieb Dr. Zöll plötzlich mehrfach mit der geballten Faust auf den infamen Kippschalter, bis der – funktionslos geworden – aus der Wand herausbaumelte und das Licht sich mit ihm nicht mehr ausschalten ließ. Dr. Zöll nickte befriedigt und sagte: „Alles Neue taugt nichts.“

Diesen Satz habe ich mir gemerkt, er war die Quintessenz dessen, was mir während meiner Schulzeit vermittelt worden war. Veränderung ist schlecht. Drehschalter sind für die Ewigkeit. Amen.

Die beste Mahlzeit meines Lebens

… habe ich genossen, als ich sie noch gar nicht würdigen konnte. Ich war schlanke12 17 Jahre alt, als unser tollkühner Klassenlehrer uns in zwei VW-Busse packte, um mit uns 14 unvergessliche Tage lang den Süden Frankreichs zu erkunden. Tarrascon, Arcachon, die Camarque … plötzlich wurde der Horizont auch für den engstirnigsten Nordhessen wunderbar weit. Auch, was das Essen anbelangt, denn das, was in Frankreich auf die Teller kam, war tatsächlich Lichtjahre von dem entfernt, was im Kreis Eschwege aufgetischt wurde. Einige meiner Klassenkameraden sehnten sich bald nach Bratwurst und Krautshäuptchen zurück, aber bei mir begann die lebenslange Liebesgeschichte mit der französischen Küche in diesen Tagen. Genauer gesagt, an einem der letzten Tage unserer Klassenfahrt, an denen unsere VW-Busse und Zelte auf dem Campingplatz „Les cent chênes“ in St. Jeannet standen, nur wenige Kilometer von Nizza entfernt. Auf dem Campingplatz gab es zwar eine Bar mit jeder Menge leckerer Getränke, aber kein Restaurant. Man konnte allerdings eine Bouillabaisse bekommen, wenn man sie drei Tage im Voraus bestellte. Diese Bouillabaisse wurde von Madame Oddo zubereitet, der Chefin der Campingplatz-Betreiber-Familie, einer Matriarchin von beeindruckender Autorität. Am Tag nach der Vorbestellung schwärmten die Familienmitglieder zu den Fischern der Umgebung aus und bestellten die Fische für die Suppe vor. „Dans ma bouillabaisse, il y a chaque poisson de la Méditerranée.“ war das Credo von Madame Oddo, und am Tag des Bouillabaisse-Essens schwärmten die Familienmitglieder erneut aus und holten die bestellten, am selben Morgen gefangenen Fische ab.

Am Abend wurde aufgetischt. Auf der großen Wiese hatten die Oddos eine lange Tafel aufgebaut, an der wir Platz nehmen durften. Dann wurden Platten mit den im ganzen gekochten Fischen aufgetragen, Terrinen mit dem Sud, in dem sie gegart worden waren und Schalen mit einer scharfen, knoblauchlastigen Paste, die verwirrenderweise so hieß wie mein Schulfreund Rudi, dessen Namen wir mit stimmlosem „d“ auszusprechen pflegten. Dazu noch jede Menge knuspriges Baguette vom Bäcker in St. Jeannet, das kannten wir schon.

Von den Fischen, die da auf den Platten vor uns lagen, kannte ich keinen einzigen, die waren im Biologie-Unterricht von Dr. Zöll nicht vorgekommen. Auch vom Entgräten von Fischen hatte ich keine Ahnung, aber was machte das schon? Neuland war damals noch dazu da, betreten zu werden, ich zerfetzte zwei Fische, kippte mir Suppe und Rouille drauf, trank mir mit etwas Weißwein Mut an und legte los.

Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Eher im Gegenteil. Dafür hatte ich zu viele Gräten im Fischfleisch übersehen, dafür war der safranisch-fenchelige Geschmack der Suppe zunächst zu fremdartig, die Rouille für meinen noch ungestählten Gaumen zu scharf. Aber es schmeckte nur ungewohnt, nicht schlecht. Weißwein half. Und als ich meinen Teller geleert hatte, zerfetzte ich zwei weitere Fische und begann, mich wohl zu fühlen. Sehr wohl zu fühlen. Mir war klar, dass dieses wunderbare Essen mit meinen Klassenkameraden und meinem Lehrer auf der Lichtung im Eichenwald, unter dem blauen Himmel der Cote d’Azure, eine der Mahlzeiten war, die ich niemals vergessen würde. Was konnte es schöneres geben, als mit Freunden im Schatten französischer Eichen Bouillabaisse zu essen, umgeben von Knoblauchduft und goldener Zukunft?

Heute weiß ich, dass das allein schon wegen der Frische und der Vielfalt der verwendeten Fische eine absolut sensationelle Bouillabaisse gewesen sein muss. Ich würde einiges geben, sie noch einmal kosten zu dürfen. Oder doch lieber nicht. So gut, wie sie in meiner Vorstellung mittlerweile ist, kann sie ja gar nicht gewesen sein. Oder … vielleicht doch?

Filet Wellington „für Arme“

Foto: cyclonebill from Copenhagen, Denmark, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Wer sich für gute Küche interessiert, gerät früher oder später an das berühmte „Filet Wellington„, einen Klassiker der feinen Küche, der seit Jahrzehnten auf den Speisekarten der gehobenen Gastronomie zu finden ist. Was einigermaßen erstaunlich ist, denn von der Rezeptur her ist das Wellington kein Musterbeispiel für kulinarische Logik. Hauptbestandteil ist Rinderfilet, ein mangels Marmorierung nicht gerade mit Eigengeschmack gesegnetes Stück Fleisch, dass dann prompt noch mit „allem, was gut und teuer ist“ (Blätterteig, Duxelles, in früheren, unerschrockenen Zeiten auch noch Gänseleberpastete) beballert wird, sodass ein Gericht entsteht, das an die Spielweise klassischer Mittelstürmer im Fußball erinnert: es will eher durch Wucht als durch Finesse überzeugen.

Am Anfang meiner kulinarischen Karriere (Ende der 70er) hatte ich auch einmal ein „Wellington“ auf dem Teller. Ich war neugierig auf dieses Gericht gewesen (Siebeck hatte es, glaube ich, mal beschrieben) und da damals ein Restaurantbesuch mit Wellington-Order und Gedöns drumrum (Vorspeise, Dessert, ordentlich Wein) außerhalb meiner finanziellen Möglichkeiten lag, hab ich es selbst zubereitet. Da ich in Sachen Duxelles, Filet und Blätterteig ein Novize war, schob ich eine Art Generalprobe vor und spielte das Gericht mit preiswerteren Produkten schon einmal durch, also eine Art Filet Wellington für Arme bzw. „pour les pauvres“, wie der frankophile Hobbykoch es nannte. Ich briet ein Schweinefilet scharf an und ließ es abkühlen, machte eine Duxelles, indem ich Champignons durch den Fleischwolf drehte13, in einem Küchenhandtuch ausdrückte und mit Schalotten in reichlich Butter briet und als Gänseleber-Ersatz pimpte ich hundsordinäre Kalbsleberwurst mit Weißwein, Creme Fraiche und frischen Kräutern. Diese beiden Pampen strich ich dann auf das Schweinefilet und wickelte die ganze Chose in Blätterteig, den ich mit Eigelb bestrich. Das Gesamtpaket schob ich bei 200 Grad in den Offen, bis der Blätterteig golden aufgegangen war, das hat so ungefähr 25 bis 30 Minuten gedauert, wenn ich mich recht entsinne.

Die Generalprobe klappte hervorragend, und das „richtige“ Wellington, das ich ein paar Tage später zubereitet habe, war dann küchentechnisch auch kein Problem mehr. Trotzdem war ich mit dem Ergebnis nach zwei, drei Bissen nicht wirklich zufrieden. Das war zu klobig, zu klotzig, um wirklich delikat zu sein. Ähnlich ging es vor ein paar Tagen der geschätzten Frau Kaltmamsell, die bei einem Restaurantbesuch mit einem Wellington als Hauptgang ebenfalls nicht ganz glücklich war. Für mich war das Filet Wellington ein kulinarischer Ort, den man einmal aufsucht, um ihn kennenzulernen und anschließend anderswohin fährt, weil’s einem dort besser gefällt. Nicht, dass es mir nicht geschmeckt hätte, im Gegenteil, es war bei mir wohl auch ein Fall von übergroßer Erwartungshaltung.

Hinzu kam, dass mir idiotischerweise das Generalproben-Gericht, dass „Wellington für Arme“ besser gefallen hatte als das Original. Das Schweinefilet mit der Duxelles und der aufgebohrten Leberwurst hatte eine sympathische, direkte Deftigkeit mit  Spurenelemente von Delikatesse, das hatte Spaß gemacht. Ich hab dann die „arme“ Version für ein paar Jahre ins Repertoire aufgenommen und gelegentlich für Gäste gekocht. Vielleicht mach ich’s dieser Tage mal wieder. Dann schieb ich ein Foto nach.

Kopfwäsche von Herrn Flach

Foto von Karl-Hermann Flach

Archiv des Liberalismus, Bestand Audiovisuelles Sammlungsgut, F5-1 / CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Anfang der 70er Jahre waren wir alle politisch. Als 1969 Willy Brandts sozialliberale Koalition begann, den Muff von 20 Jahren CDU-Vorherrschaft wegzupusten, als mit den Ostverträgen „Wandel durch Annäherung“ versucht wurde, kurz, als die Dinge sich tatsächlich zu verändern begannen, ließ das niemanden kalt. Wir begannen, nachzudenken, bezogen Stellung, diskutierten … die Dinge erschienen auf einmal veränderbar, und man wollte mitmachen, mit verändern, sich einbringen. Es war eine schöne, sehr aufregende Zeit, in der ich zu überlegen begann, ob nach Abitur und Studium die Politik nicht etwas für mich wäre..

Ich schloss mich Anfang der 70er Jahre den Jungdemokraten an. Die Ideen des Liberalismus beseelten den idealistischen jungen Kerl, der ich damals war, und die Judos hatten damals ein großes Thema, das mich umgetrieben hat: die Trennung von Kirche und Staat. Ich  empfand die Privilegien, die die evangelischen und katholischen Kirchen hierzulande genossen und weidlich ausnutzten als schlichtweg inakzeptabel, ebenso wie die Rollen, die sie im öffentlichen Diskurs spielten.

1973 fand der Landesparteitag der hessischen FDP in Eschwege statt, unser Ortsverband organisierte die Veranstaltung, und meine Aufgabe war es, die Abstimmungen auf dem Parteitag zu organisieren. Ich musste Wahlhelfer beschaffen und einweisen, die die Stimmzettel einsammelten, musste darauf achten, dass alles ordnungsgemäß ablief, die Ergebnisse übermitteln etc. Das klappte ganz gut, die ganze Sache war auch nicht sonderlich schwer zu managen. Als Gegenleistung für mein Engagement dürfte ich mir eine Begegnung mit einem FDP-Politiker wünschen, der am Parteitag teilnahm. Ich hab keine tausendstel Sekunde überlegt und bat um ein Gespräch mit Karl-Herrmann Flach. Flach war damals der Superstar des Linksliberalismus, er war der spiritus rector hinter den „Freiburger Thesen“, und sein Buch „Noch eine Chance für die Liberalen“ hatte ich mehrmals gelesen.

Kurz nach dem Schlusswort des Parteitags war es dann so weit, ich wartete im „Zählzimmer“ hinter der Bühne der Eschweger Stadthalle, und dann flog die Tür auf und Karl-Hermann Flach kam herein. „Ich habe höchstens eine Viertelstunde, was wollen Sie wissen?“

Natürlich hatte ich mir gut überlegt, was ich Flach fragen wollte, und so sprach ich das damals aktuelle „Kirchenpapier“ der Jungdemokarten an, in dem wir die Trennung von Kirche und Staat forderten, und fragte ihn, wie man diese Trennung in die Wirklichkeit umsetzen könne. Mit allen möglichen Antworten hatte ich gerechnet, aber nicht mit der, die Herr Flach mir gab: „Gar nicht. Das ist kompletter Unfug, den Sie vergessen sollten. Wenden Sie sich anderen Dingen zu!“

Wenn er beabsichtigt hatte, mir jegliche Scheu vor sich zu nehmen und mich auf hundertachtzig zu bringen, war ihm das gelungen. Natürlich widersprach ich dem „Unfug“ und verteidigte unser politisches Anliegen. Aus der Viertelstunde, die Flach mir zugestanden hatte, wurde ein anderthalbstündiger Streit, der immer wieder von Flachs zum Aufbruch mahnendem Fahrer unterbrochen wurde. Flach argumentierte nicht in der Sache gegen mich: Die Trennung von Kirche und Staat wäre ein lobenswertes Ziel, das aber nicht verwirklicht werden könnte. Schon gar nicht von einer kleinen Partei wie den Liberalen, die ein derart fundamentales Vorhaben nur mit Verbündeten umsetzen könnte, und die würden sich nicht in der SPD und schon gar nicht bei der CDU finden lassen. Niemand würde es sich mit der eigenen, christlich orientierten Klientel verscherzen wollen. Und noch viel wichtiger: Wenn man auch nur versuchen würde, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, würde man eine riesige Angriffsfläche bieten, und die Angreifer konnten sich der Unterstützung der mächtigen Kirchen sicher sein. Ein Vorhaben wie die Trennung von Kirche und Staat sei schlicht nicht realisierbar.

Dieser Argumentation hatte ich – außer meinem plötzlich ein wenig deplatziert wirkenden Idealismus – wenig entgegenzusetzen. Und auf meinen Einwand „Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer war doch vor ein paar Jahren auch noch eine reine Utopie, was ist da der Unterschied zur Trennung von Kirche und Staat?“ hatte Flach auch eine Antwort: „Die Mitbestimmung einzuführen, hat sich als eine Frage der Vernunft erwiesen. Das kann man öffentlich mit Gewinn diskutieren. Bei der Kirche ist immer etwas Irrationales mit im Spiel, auf das Terrain will man sich nicht begeben.“

Als Herr Flach sich nach anderthalb Stunden verabschiedete, war ich einigermaßen verdattert. Ich hatte mir von ihm etwas gänzlich anderes erwartet als eine Lehrstunde in politischem Pragmatismus. Aber ich musste mir auch eingestehen, dass ich seiner Argumentation nichts entgegenzusetzen gehabt hatte: Der Mann hatte in der Sache schlicht recht gehabt und meinem Idealismus die Grenzen aufgezeigt. Ich beschloss, mir für ein weiteres Treffen – das Flach mir beim Abschied versprochen hatte – etwas einfallen zu lassen und mich besser vorzubereiten.

Dazu kam es dann nicht mehr. Nur wenige Wochen später saß ich geschockt vor dem Fernseher, als in der Tagesschau sein plötzlicher Tod vermeldet wurde: Schlaganfall. Das war ein immenser Verlust, und ich frage mich heute noch, wie anders sich dieses Land und die FDP entwickelt hätten, wenn Flach nicht so früh gestorben wäre.

Das anderthalbstündige Gespräch mit diesem außergewöhnlichen Mann hat mein Leben und Denken nachhaltig geprägt. Je mehr Jahre vergingen, desto klarer wurde mir, wie Recht Flach gehabt hatte. Von der Trennung von Kirche und Staat sind wir heute noch beinahe genauso weit entfernt, wie damals, auch wenn der Einfluss der Kirchen mittlerweile deutlich geringer ist als damals. Wie wichtig Pragmatismus ist, hat Flach nachhaltig in meinem Denken verankert. Heute weiß ich, dass die dollsten idealistischen Ideen nur Stammtischparolen bleiben, wenn man keinen Weg weiß, wie man aus ihnen Wirklichkeit machen kann. Und weil mir noch als Jugendlicher klar wurde, dass meine Ideen sich meist einen Scheiß darum scherten, ob sie in die Wirklichkeit passen oder nicht, hab ich das mit der Politik sein lassen und bin zum Theater gegangen. War damals eine gute Entscheidung, die ich auch der Kopfwäsche von Karl-Hermann Flach zu verdanken habe.