Wer das Privileg hat, älter werden zu dürfen, kennt das: Da sind ein paar Bilder hängen geblieben, aus den verschiedensten Abschnitten des eigenen Lebens.
Auf einem der frühesten Bilder, an die ich mich erinnern kann, sitzt meine Mutter in der Küche. Sie hat ihre Schürze umgebunden und isst einen Kanten Brot. Nicht den appetitlich-knusprigen Kanten eines frischen Brots, sondern den trockenen, steinharten Kanten eines mehre Tage alten Brotlaibs, den alle anderen Familienmitglieder verschmäht hatten. Meine Mutter, die meine Geschwister durch den 2. Weltkrieg und die Hungerjahre der Nachkriegszeit hatte bringen müssen, war unfähig, Lebensmittel wegzuwerfen. Und Brot schon gar nicht, auch wenn es ein steinharter Kanten war. Also aß sie ihn zum zweiten Frühstück, dünn mit Butter bestrichen. Um das harte Brot abbeißen zu können, schnitt sie das Brot immer wieder ein Stück mit ihrem Küchenmesser, dem “Kliffchen“, ein, so dass sie es mit große Mühe doch noch abbeißen konnte. Sie kaute jeden Bissen lange, um ihn überhaupt herunter schlucken zu können. Gelegentlich feuchtete sie dabei Brot und Kehle mit ein wenig Kaffee an. So ein Brotkanten-Frühstück dauerte recht lange, mindestens zwanzig Minuten. In kürzerer Zeit war dem harten Brot nicht beizukommen.
Ungerechtes Postscriptum: Viele Jahre später sah ich die große Schauspielerin Therese Giehse in der Berliner Schaubühne. Sie spielte die Hauptrolle in “Die Mutter“, einem Stück von Brecht nach einem Gorki-Roman. In einer Szene aß sie auf der Bühne mit großer Inbrunst, Hingabe und Sorgfalt einen Teller Suppe. Insbesondere dafür war sie von der Theaterkritik sehr gelobt worden. Ich hatte den Vergleich zu meiner Brot essenden Mutter. Für mich war’s – bei aller Bewunderung für Frau Giehses Können – eine Zirkusnummer..