Die beste Mahlzeit meines Lebens

… habe ich genossen, als ich sie noch gar nicht würdigen konnte. Ich war schlanke1 17 Jahre alt, als unser tollkühner Klassenlehrer uns in zwei VW-Busse packte, um mit uns 14 unvergessliche Tage lang den Süden Frankreichs zu erkunden. Tarrascon, Arcachon, die Camarque … plötzlich wurde der Horizont auch für den engstirnigsten Nordhessen wunderbar weit. Auch, was das Essen anbelangt, denn das, was in Frankreich auf die Teller kam, war tatsächlich Lichtjahre von dem entfernt, was im Kreis Eschwege aufgetischt wurde. Einige meiner Klassenkameraden sehnten sich bald nach Bratwurst und Krautshäuptchen zurück, aber bei mir begann die lebenslange Liebesgeschichte mit der französischen Küche in diesen Tagen. Genauer gesagt, an einem der letzten Tage unserer Klassenfahrt, an denen unsere VW-Busse und Zelte auf dem Campingplatz „Les cent chênes“ in St. Jeannet standen, nur wenige Kilometer von Nizza entfernt. Auf dem Campingplatz gab es zwar eine Bar mit jeder Menge leckerer Getränke, aber kein Restaurant. Man konnte allerdings eine Bouillabaisse bekommen, wenn man sie drei Tage im Voraus bestellte. Diese Bouillabaisse wurde von Madame Oddo zubereitet, der Chefin der Campingplatz-Betreiber-Familie, einer Matriarchin von beeindruckender Autorität. Am Tag nach der Vorbestellung schwärmten die Familienmitglieder zu den Fischern der Umgebung aus und bestellten die Fische für die Suppe vor. „Dans ma bouillabaisse, il y a chaque poisson de la Méditerranée.“ war das Credo von Madame Oddo, und am Tag des Bouillabaisse-Essens schwärmten die Familienmitglieder erneut aus und holten die bestellten, am selben Morgen gefangenen Fische ab.

Am Abend wurde aufgetischt. Auf der großen Wiese hatten die Oddos eine lange Tafel aufgebaut, an der wir Platz nehmen durften. Dann wurden Platten mit den im ganzen gekochten Fischen aufgetragen, Terrinen mit dem Sud, in dem sie gegart worden waren und Schalen mit einer scharfen, knoblauchlastigen Paste, die verwirrenderweise so hieß wie mein Schulfreund Rudi, dessen Namen wir mit stimmlosem „d“ auszusprechen pflegten. Dazu noch jede Menge knuspriges Baguette vom Bäcker in St. Jeannet, das kannten wir schon.

Von den Fischen, die da auf den Platten vor uns lagen, kannte ich keinen einzigen, die waren im Biologie-Unterricht von Dr. Zöll nicht vorgekommen. Auch vom Entgräten von Fischen hatte ich keine Ahnung, aber was machte das schon? Neuland war damals noch dazu da, betreten zu werden, ich zerfetzte zwei Fische, kippte mir Suppe und Rouille drauf, trank mir mit etwas Weißwein Mut an und legte los.

Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Eher im Gegenteil. Dafür hatte ich zu viele Gräten im Fischfleisch übersehen, dafür war der safranisch-fenchelige Geschmack der Suppe zunächst zu fremdartig, die Rouille für meinen noch ungestählten Gaumen zu scharf. Aber es schmeckte nur ungewohnt, nicht schlecht. Weißwein half. Und als ich meinen Teller geleert hatte, zerfetzte ich zwei weitere Fische und begann, mich wohl zu fühlen. Sehr wohl zu fühlen. Mir war klar, dass dieses wunderbare Essen mit meinen Klassenkameraden und meinem Lehrer auf der Lichtung im Eichenwald, unter dem blauen Himmel der Cote d’Azure, eine der Mahlzeiten war, die ich niemals vergessen würde. Was konnte es schöneres geben, als mit Freunden im Schatten französischer Eichen Bouillabaisse zu essen, umgeben von Knoblauchduft und goldener Zukunft?

Heute weiß ich, dass das allein schon wegen der Frische und der Vielfalt der verwendeten Fische eine absolut sensationelle Bouillabaisse gewesen sein muss. Ich würde einiges geben, sie noch einmal kosten zu dürfen. Oder doch lieber nicht. So gut, wie sie in meiner Vorstellung mittlerweile ist, kann sie ja gar nicht gewesen sein. Oder … vielleicht doch?

Die offizielle Zahl

Nicht erst seit dem letzten Wochenende, als die AfD und ihre Gegner in Berlin demonstrieren, spekuliert man gern über die tatsächliche Teilnehmerzahl bei Demonstrationen, auch bei der Tagesschau wurde das heute thematisiert.

Ich kann dazu eine kleine Geschichte beitragen. Vor ungefähr 45 Jahren (ja, ist lange her) arbeitete ich in einer Initiative mit, die für ein Jugendzentrum in meiner Heimatstadt kämpfte. Es war uns gelungen, eine öffentliche Demonstration durch die Eschweger Innenstadt zu organisieren1, und wenige Tage vor der Demo warnte mich ein ehemaliger Mitschüler, der ein paar Jahre zuvor eine Demonstration gegen die Notstandsgesetze organisiert hatte: „Pass auf, was die in der Zeitung über die Teilnehmerzahl schreiben, bei uns haben die damals nur die Hälfte angegeben.“

Ich beherzigte den Ratschlag, stellte mich bei der Abschlusskundgebung neben den Redakteur der Werra-Rundschau und zählte mit ihm die Anwesenden durch. Wir waren uns einig, das bei der Schlusskundgebung über 800 Leute anwesend waren und ca. 650 Menschen demonstriert hatten.

Zwei Tage später las ich dann in der Zeitung, dass „ungefähr 350 Jugendliche“ demonstriert hatten. Ich staunte nicht schlecht, und rief den Redakteur an, mit dem ich die Demonstrierenden ja GEZÄHLT hatte. Der meinte ungerührt, dass die Zahl „350“ von der Polizei gekommen sei, und wenn’s von der Polizei kommt, dann sei das eben die „offizielle“ Zahl.

  1. War gar nicht so einfach, damals. Demos galten damals automatisch als von der „sogenannten DDR“ ferngesteuerter Umsturzversuch.

Flibbertigibbet

In den sechziger Jahren verbrachte meine Familie den Sommerurlaub meistens in Bournemouth. Schönes Seebad, toller Park (die „Lower Pleasure Gardens“), herrlicher Strand und zum Hotel musste man nur über die Straße gehen. Und die Eltern kauften mir englische Comics, damit ich Ruhe gab die Sprache lernte. Ich war gern in Bournemouth.

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Doch dann kam 1965. In Bournemouth regnete es Strippen, und so beschlossen meine Eltern, mit mir ins Kino zu gehen. In Bournemouth gingen sie gern mit mir ins Kino. In England durte man damals nämlich im Kino rauchen. Welcher Film gezeigt wurde, war ihnen einigermaßen wurscht. Hauptsache, der Film war jugendfrei, so dass ich mit rein durfte und sie eine Weile lang in Ruhe rauchen konnten. Der einzig jugendfreie Film, der 1965 in Bournemouth lief, war „The Sound of Music“.

Ich war damals acht Jahre alt. Ich interessierte mich für Batman und Fußball. Ich interessierte mich definitiv NICHT für singende Nonnen, österreichische Barone, ihre schwer erziehbaren Blagen  etc. pp. Spätestens als diese komischen Nonnen etwas von einer Maria sangen, die ein Flibbertigibbet sei, drehte ich augenrollend ab. Furchtbar. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich in diesem endlose drei Stunden langen Schinken gelangweilt habe.

Ein paar Tage später traf die damals über 70jährige Mrs. S. ein. Meine Eltern hatten Mrs. S. ein paar Jahre zuvor am Strand kennengelernt. Daraus war eine echte Freundschaft entstanden. Mrs. S. war eine stolze, mit knorrigem Humor gesegnete Walliserin, für die das Adjektiv „resolut“ erfunden worden war.

Mrs. S. erzählte nun, dass sie letzte Woche in ihrer Heimatstadt Cardiff mit ihrer Freundin im Kino gewesen sei, und einen ganz fantastischen, herzergreifenden Film gesehen habe, „The Sound of Music“. Der wäre auch was für kleine Jungs wie mich, viele Kinder auf der Leinwand, jede Menge Song and Dance, da hätte ich Spaß. Deshalb würde sie mich und meine Eltern gern ins Kino einladen. „Du sagst nicht, dass wir schon drin waren!“; zischte mein Vater mir zu, der es unhöflich fand, die Einladung auszuschlagen. Und so durfte ich mir die sterbenslangweiligen Umtriebe der trällernden Trapp-Famile ein zweites Mal anschauen. Immerhin wusste ich jetzt, dass die Tortur nach der Stelle mit dem Flibbertigibbet nur noch knapp zweieinhalb Stunden lang dauerte. Immerhin, als das Licht im Kino anging, meine Eltern ihre ZIgaretten ausmachten und Mrs. S. Ihr Taschentuch einpackte, war ich froh, diesen Film nie wieder anschauen zu müssen.

Ich Idiot. Ein paar Tage später kam Mrs. S.s Sohn Lance und seine Frau Margaret nach Bournemouth, um ein paar Tage mit ihr zu verbringen. Und – unglaublich, aber wahr – die kannten „The Sound of Music“ noch nicht. „You MUST see this movie!“, rief Mrs. S. „We‘ll go straight away. The boy will accompany us, he adores Julie Andrews…“ Wie? Was? „Ernest?1 Did Christopher just throw me a dirty look?“ – „No! No! He… he always looks a little peculiar when he‘s looking forward to something… Benimm dich, um Himmelswillen!“

Zu meinem eigenen Erstaunen hätte ich das Lied mit dem Flibberdigibbet tatsächlich mitsingen könne. Was ich natürlich nicht tat, sonst wäre Mrs. S. vielleicht auf die Idee gekommen, mit mir täglich in diesen schrecklichen Film zu gehen. Aber das Sound-of-Music-Maß war nach dem dritten Durchgang noch nicht voll. Als nämlich meine Schwester nachkam, um die letzte Urlaubswoche mit uns zu verbringen, erzählte sie Mrs. S. arglos, dass sie „Sound of Music noch nicht kannte. Noch bevor ich sie ein „dummes Flibbertigibbet“ nennen konnte, saß ich mit ihr und Mrs. S. schon wieder im Kino… Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, als die Ferien zu Ende gingen.

12 Stunden Sound of Music können den stärksten Mann aus den Socken hauen, und einen kleinen Jungen erst recht. Trotzdem habe ich diesen Sommer ohne weitere Nachwirkungen überstanden. Ein paar Jahre später habe ich sogar die Kraft gefunden, einmal nachzuschlagen, was „Flibbertigibbet“ eigentlich heißt. Man hat die Wahl zwischen dem freundlichen „Irrwisch“ und dem ehrlichen „alberne Person, die zuviel redet“. Tja, da fällt die Wahl nicht schwer. Übrigens hat dieses Wort sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Mittlerweile habe ich nichts mehr gegen den Film. Im Gegenteil, ich besitze sogar eine DVD, die ich anschaue, wenn ich betrunken oder sentimental oder beides bin. Dann geht die Post ab. »The Hiiiiiiiiiills are alive…«

Am 3. Januar 2018 um 14 Uhr läuft der Film wieder auf arte.

  1. Mein Vater hieß Ernst.

Das Schweigen im abgeholzten Walde

Die Jahre 1969 bis 1972 wird wohl niemand vergessen können, der sie miterlebt hat. Die SPD7FDP-Koalition hatte die CDU nach 20 Jahren Regierung abgelöst, und Willy Brandt und Walter Scheel machten sich daran, das Land vom ultrakonservativen Muff zu befreien. Es wurde nicht nur mehr Demokratie gewagt, es wurde ein vollkommen neues Verhältnis zu unseren Partnern in Osteuropa definiert, die man nicht mehr nur als gemeingefährliche Gegner im Kalten Krieg sehen wollte, sondern mit denen man in Zukunft partnerschaftlich umgehen wollte.

Diese neue Ostpolitik politisierte das ganze Land. Sowohl die Befürworter dieser Politik als auch ihre Gegner meldeten sich täglich zu Wort, die Zeitungen druckten seitenweise Statements von Befürwortern und Gegnern, die Kolumnisten schrieben täglich neue (manchmal nicht ganz so neue) Kommentare zum Thema Ostpolitik und Ostverträge. Das ging drei Jahre lang so, bis zur „Willy-Wahl“ 1972, auf die dann der Guillaume-Kater folgen sollte.

Aber darauf will ich gar nicht hinaus. Ich will an eine elektrisierende, öffentliche Debatte erinnern , die ein Volk begeistert und nicht gespalten hat, wie die damalige Opposition nicht müder wurde zu behaupten. Wenn sich damals, sagen wir 1971, über 60 echte Hochkaräter des öffentlichen Lebens, darunter ein ehemaliger Bundespräsident, ein ehemaliger Bundeskanzler und etliche echte politische, kulturelle und/oder intellektuelle Schwergewichte zu Wort gemeldet und einen Grundsatzappell zur Ostpolitik veröffentlicht hätten,  wäre presse- und fernsehmäßig Großalarm gewesen. Interviews, Kommentare, Diskussionsrunden… die öffentliche Debatte wäre erst so richtig losgegangen.

Am Freitag letzter Woche haben sich hierzulande über 60 echte Hochkaräter des öffentlichen Lebens, darunter ein ehemaliger Bundespräsident, ein ehemaliger Bundeskanzler und etliche politische, kulturelle und/oder intellektuelle Schwergewichte zu Wort gemeldet und einen Grundsatzappell zur Ostpolitik veröffentlicht, nachzulesen hier, bei ZEIT Online. Obwohl die Ukraine-Krise und unser Verhältnis zu Russland und Putin ein Thema ist, dass die Bürger dieses Landes brennend interessiert, haben ARD und ZDF diesen Appell mehr oder weniger totgeschwiegen, wie Stefan Niggemeier schreibt. Und auch in den Presseveröffentlichung, die ich (online und auf Papier) verfolge, war dieser Appell so marginalisiert worden, dass ich ihn schlichtweg übersehen habe, ich bin erst durch Niggemeiers Blogposting darauf aufmerksam geworden.

Ich verstehe nicht, warum die öffentlich-rechtlichen Sender und die Presse, die sich angeblich so sehr nach steigender Auflage sehnt, diesen Appell nicht aufgegriffen haben. Keine Interviews mit den Unterzeichnern gebracht haben. Keine Pro und Contras gebracht haben. Das ganze oft nicht einmal kommentiert haben sondern über 60 Menschen, deren Ansichten normalerweise ernst und wichtig genommen werden, einfach ignoriert haben. Bei ZEIT Online, die den Appell immerhin online veröffentlicht hat, sieht man das Dilemma: Der Text ist auf enormes Interesse gestoßen und hat eine Debatte initiiert, über 1500 Kommentare sind auch bei der ZEIT rekordverdächtig. Doch taucht der Appell auf der Startseite unter „meistkommentierte Artikel“ auf? Nein. Merkwürdig, nicht wahr? Erinnert an das Totschweigen der Mollath-Debatte am gleichen Ort.

Die von 1969 bis 1972 geführte öffentliche Debatte über die Ostpolitik hat dieses Land nachhaltig und sehr zum Positiven verändert. Das Abwürgen eine ähnlich wichtigen Debatte, die von den Bürgern anscheinend gewünscht wird, wird dieses Land wiederum verändern. Und nicht zum Positiven.

Die Swap-Datei. Oder sowas.

„There ain’t no such thing like a free lunch“ ist eins dieser Sprichwörter, mit denen Eltern ihre Kinder nerven. „Es gibt nichts umsonst im Leben“ ist die prosaischere deutsche Variante für die englische Erkenntnis, dass man immer zahlen muss, auch wenn das Mittagessen angeblich gratis war.
Eine Rechnung wird uns dieser Tage präsentiert, und zwar die Rechnung für unsere Bequemlichkeit. Darf ich kurz an die Anfänge der Personal Computer erinnern, an die XTs, ATs und 386er, mit denen man vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren die ersten Schritte in Textverarbeitungen, Spreadsheets etc. machte?
Wenn man damals so ein Ding gekauft (für ein unsinniges Geld übrigens), auf dem Schreibtisch platziert und eingeschaltet hatte… passierte erst mal gar nix. Weil einen nur ein leerer Bildschirm anguckte, auf dem erhellenderweise nur „C:\“ zu lesen war. Ja, genau sowas wie die Windows-Eingabeaufforderung. Die Windows-Eingabeaufforderung hieß damals MS-DOS und war das Betriebssystem, dass man erstmal erlernen musste, denn die PCs wurden mit kryptischen Tastaurkürzeln bedient. Mit „format a:\“ konnte man eine Diskette in Laufwerk A: formatieren, mit „cd arbeit“ in einen Ordner namens „arbeit“ wechseln, sich mit „dir“ den Verzeichnisinhalt anzeigen lassen und mit „wp“ Wordperfect starten, die damals (und vielleicht noch heute) beste Textverarbeitung der Welt. Das war am Anfang etwas kompliziert, weil einem die Befehle ungewohnt und willkürlich erschienen. Was sie aber gar nicht waren. Wenn man sich einmal mit der Funktionsweise eines solchen PCs auseinander gesetzt hatte, und gerafft hatte, dass „cd“ die Abkürzung für „change directory“ und „format“ die Abkürzung für „format“ war, ging einem das GeDosse ganz flott von der Hand.
Und man wusste haargenau, warum der Rechner was tat. Wenn das Diskettenlaufwerk oder die Festplatte ansprang, dann nur aus dem Grund, weil ich dem Rechenknecht gesagt hatte, dass er etwas speichern oder laden sollte. Auch wenn man mit einer Textverarbeitung oder einer Tabellenkalkulation arbeitete, wusste man eigentlich immer genau, was der Rechner tat.
Das war nicht schwer, aber die meisten Menschen, die anfingen, mit Computern zu arbeiten stöhnten, wie schwer und unbegreiflich doch diese PCs wären.
Und dann kam Windows (bzw. dieses Mac-Zeugs). Einfach mit der Maus draufzeigen und klicken. Ist heute Standard, war damals sowas wie die erste Mondlandung. Kein Mensch musste mehr Tastaurbefehle auswendig lernen oder die Funktionsweise des Dingenskirchen verstehen, den er da bediente.
Mir war das unheimlich. Wenn Windows lief, ratterte plötzlich meine Festplatte los, ohne dass ich ihr das Losrattern erlaubt hatte. „Ist die Swap-Datei. Oder sowas“, erklärten einem die Windows-Experten. Auf die Frage, was denn „oder sowas“ sein könnte, kam nur ein Achselzucken.
Ich hab mich an DOS geklammert, bis es nicht mehr ging. Ich wollte die Kontrolle über meinen Rechner nicht aufgeben. Aber 1996 oder 97 war es soweit, ich warf den letzten Rechner, dessen Funktionsweise ich hundertprozentig verstanden hatte, auf den Müll und kaufte einen mit Windows 95. Die Auftraggeber bestanden darauf, dass ich meine Texte mit einer hundertprozentig kompatiblen Windows-Textverarbeitung lieferte, und soweit ging mein Starrsinn dann doch nicht, dass ich gutes Geld ablehnte.
Und bald war auch mein Unbehagen wegen der dauernden Festplattenzugriffe und anderer Merkwürdigkeiten in Windows 95 (davon gab es viele!) verschwunden. War ja wirklich bequemer, und was dieses Betriebssystem nun ganz genau auf meinem Rechner veranstaltete, musste ich ja nun wirklich nicht wissen, solange er die Texte ausspuckte, die ich vorher eingetippt hatte. War eben die Swap-Datei. Oder sowas.
Und heute sitzen wir alle an Kisten, die alle irgendwie mit dem Internet und untereinander vernetzt sind, und außer ein paar tausendprozentigen Geeks und Nerds weiß eigentlich keiner, was die Kiste, an der er sitzt, tatsächlich macht. Könnte die Swap-Datei sein. Oder sowas. Wobei „sowas“ ein Virus sein kann. Oder die NSA. Oder die Briten, die Chinesen, die bräsigen Onkels in Strickjacken vom WDR-Computerclub oder eine Kombination aus allem. Wir wissen’s nicht, und wir werden’s nicht mehr herausbekommen. Wir wollten’s ja unbedingt einfach und bequem haben.
Es hat zwar ein paar Jahrzehnte gedauert, aber jetzt ist der Kellner mit der Rechnung für den Gratis-Lunch gekommen.