Mutters Essen: Knödel mit Geschichte

Das Leibgericht meines aus Ostpreußen stammenden Vaters wurde in unserer Familie nur „Knödel“ genannt. Es handelte sich um mit gekochtem Rindfleisch angereicherte, flache Kartoffelknödel aus rohen und gekochten Kartoffeln, „halb und halb“, wie man sagt. Merkwürdigerweise steht dieses Gericht in keinem der mir bekannten ostpreußischen Kochbücher, und auch in der Ostpreußen-Ecke des Internet konnte ich es nicht auftreiben. Dort finden sich nur „Königsberger Keilchen“ bzw. „Knödel aus Goldap“, beides mit „Halb und Halb“-Knödeln, jedoch mit gebratenem Schweinefleisch, das separat dazu gereicht wird. Im Raum Salzburg findet sich jedoch ein Gericht namens „Restl-Knödel“, das „unseren“ Knödeln ähnelt, jedoch auf Semmelknödel-Basis zubereitet wird. Im 18. Jahrhundert kam eine größere Zahl Einwanderer aus Salzburg nach Ostpreußen, die haben das Rezept wohl mitgebracht und Kurbjuhns haben’s dann abgewandelt.

Es braucht
1 Packung Kloßteig „halb und halb“ aus dem Kühlregal1
Rindfleisch (Beinscheibe z. B.)
Suppengrün
Zwiebeln
Knoblauch

Aus Rindfleisch und Suppengrün eine kräftige, klare Brühe kochen. Das Rindfleisch abkühlen lassen, kleinschneiden und ca. 300g davon mit dem Kloßteig, dem auch noch weichgedünstete Zwiebeln und etwas Knoblauch hinzugefügt werden, verkneten. Flache Knödel in Handteller-Größe formen und in der gerade nicht mehr kochenden Brühe gar ziehen lassen. In einer Terrine zu Tisch bringen.

Klingt simpel? Ist simpel, wenn man den fertigen Kloßteig nimmt. Durch das Rindfleisch bekommen die simplen Kartoffelknödel zusätzlich Geschmack und eine sympathische  Deftigkeit. Ich aß das durchaus gern, am liebsten hab ich zu Hause zugelangt, wenn am nächsten Tag die übriggebliebenen Knödel halbiert und in der Pfanne braun gebraten wurden. Es blieben jedoch selten welche übrig, denn diese Knödel waren das Lieblingsessen meines Vaters und meines lieben Bruders Matthias. Dazu gibt’s eine Geschichte.

Mein Vater war mit einem formidablen Appetit gesegnet. Ein Rührei aus sechzehn Eiern zu verdrücken, war für ihn kein Problem, im Gegenteil, hinterher schmierte er sich noch ein oder zwei Scheiben Toast mit Marmelade. Zu absoluter Topform lief er auf, wenn’s Knödel gab, sein Leibgericht, da steckte er regelmäßig eine außerirdische Portion weg. „Das ist doch alles nicht mehr wahr …“ habe ich meine Mutter einmal murmeln hören, als sie eine Terrine mit frischen Knödeln und Brühe aus der Küche an den Esstisch brachte.

Immerhin, mein lieber Bruder Matthias konnte bei diesem Gericht, das in seiner kulinarischen Hitliste ebenfalls die Nummer eins war, durchaus mit meinem Vater mithalten. Natürlich stellte sich irgendwann die Frage, ob Matthias tatsächlich mehr Knödel verdrücken konnte als unser Vater, und natürlich gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Es wurde ein Wettessen anberaumt.

Die Druckerei meines Vaters war gegenüber, er kam zu jedem Mittagessen nach Hause. Am Wettkampftag traf er, wie immer, um kurz nach eins ein. Die Kontrahenten saßen über Eck nebeneinander, vor ihnen nur die Suppenterrine mit den Knödeln, die regelmäßig aufgefüllt wurde, und die obligatorische Maggi-Flasche. Bis zum zwölften Knödel verlief alles in den üblichen Bahnen, Matthias und mein Vater aßen mit gutem Appetit und unterhielten sich dabei. Ab Knödel Nr. 13 wurde Matthias merkwürdig schweigsam, beim 14. begann er zu schwitzen, ab dem 15. musste er ernsthaft kämpfen und der 16. Knödel war sein letzter, dann gab er auf.

Mein Vater ließ es nicht beim 17. Knödel bewenden. Er sah die einmalige Chance, sich zum „Undisputed Lifetime-Champion in the Knödel-Wett-Eating“ oder so aufzuschwingen2. Er verzehrte locker-beschwingt sagenhafte 22 Knödel, bevor ihn das Ende seiner Mittagspause zwang, den Löffel widerstrebend aus der Hand zu legen und zur Arbeit zu gehen.

Derartige Ereignisse haben immer ein Nachspiel, und dieses machte keine Ausnahme. Das Nachspiel ereignete sich am Abend desselben Tages, am Abendbrotstisch, an dem mein Vater dem Ganzen die Krone aufsetzte. Matthias hatte sich, appetitlos mit Bauchschmerzen ringend, auf sein Zimmer zurückgezogen. Ähnliches hatten wir nach seiner kapitalen Leistung von meinem Vater erwartet, der jedoch zur allgemeinen Überraschung am Esstisch auftauchte, und mit bestem Appetit in aufgeräumter Stimmung seine üblichen drei, vier Scheiben Brot mit allerlei Aufschnitt aß. Dazu trank er zwei, drei Tässchen starken Ceylon-Tee und verzog sich dann ins Wohnzimmer, wo Bier und Mosel-Riesling warteten. Und ein paar Salzletten. Falls man noch Appetit bekam.