Der andere Blickwinkel

Wer schon ein Weilchen dabei ist, kennt das. Man hat ein Projekt ausführlich vorbereitet, das Für und Wider wurde mehrfach abgeklopft, die Sache sieht gut aus, was nur noch fehlt, ist das endgültige grüne Licht, der Startschuss, der natürlich vom Büro des Oberpropellers1 aus gegeben werden soll. Es gibt einen Termin, das kreative Team, das die Vorarbeiten geleistet hat, versammelt sich, vielleicht stehen die Sektgläser schon auf dem Tisch… aber wenn jetzt jemand im Raum ist, der bisher bei keiner Teamsitzung dabei war, der bisher an dem Projekt nicht mitgearbeitet hat, dann bleiben die Sektflaschen zu, dann wird der Oberpropeller das Projekt in letzter Sekunde canceln.

Den neuen Mann (oder die neue Frau) hat der Oberpropeller dazu bestellt, der oder die hat den Auftrag, das Projekt abzuschießen, in dem er einen „anderen Blickwinkel“ ins Spiel bringt. Was für ein Blickwinkel das ist, ist vollkommen egal, es sollen lediglich Zweifel aufkommen. Der oder die Neue sagt irgendeinen Unsinn wie „Ich bin mir
nicht sicher, ob diese Geschichte wirklich von Waffenhändlern handelt. Geht es nicht eigentlich um Liebe?“ oder „Erreichen wir damit wirklich die demographisch relevante Zielgruppe zwischen 18 und 55?“ oder „Werden wir damit nicht Ärger mit den Kirchen bekommen?“. Der Oberpropeller braucht nur einen Anlass, um sagen zu können „Herrje, das hatten wir ja noch gar nicht auf dem Schirm…“ und schon ist das Projekt verschoben oder gleich gecancelt.

Einen Versuch, das Projekt zu retten, unternimmt man nur, wenn man die Nummer zum ersten Mal erlebt. Ab dem zweiten Mal weiß man, dass die Sache längst gelaufen ist, dass der Oberpropeller kalte Füße bekommen hat und das Projekt von der Backe haben will2. Der „andere Blickwinkel“ soll ihm helfen, das Gesicht gegenüber den Kreativen zu wahren. Die können ihm ja vielleicht doch noch mal nützlich sein, bei einem Projekt, das er vielleicht nicht absagt.

Und, ja, klar, die Parallelen zu dem, was letzten Freitag im Oval Office abgegangen ist, seh ich auch. Vance hatte da überhaupt nichts verloren. Deshalb hab ich’s ja aufgeschrieben.

 

Wie man für Kabarett schreibt

„Es gibt nur zwei Sorten von Kabarettnummern: die Umkehrung und den Rasierspiegel. Diese zwei Möglichkeiten haben Sie, wenn Sie zu einem Thema eine Nummer schreiben sollen. Wenn Sie die Umkehrung benutzen, dann drehen Sie das, was alle schrecklich finden sollen, einfach um, und finden es ganz toll. Oder, dann benutzen Sie den Rasierspiegel, Sie nehmen sich ein Detail des Themas raus und blasen es zur Übergröße auf, bis es grotesk wird. Ich sag Ihnen ein Beispiel. Sie sollen was über Neonazis schreiben. Dann schreiben Sie eine Nummer mit dem Vater eines solchen Idioten, der alles ganz toll findet, was sein Idiot von Sohn so treibt. Das ist die Umkehrung. Oder Sie schreiben, wie der Vater total stolz darauf ist, dass sein Sohn gelernt hat, sein Werkzeug tiptop sauber und in Ordnung zu halten, Und als Schlusspointe zeigen Sie, dass es sich um Waffen handelt, Totschläger, Schlagringe undsoweiter, Das wäre dann der Rasierspiegel.“

Diesen Kurzvortrag hielt mir der damals nach neuen Textern suchende Rolf Ulrich anfangs der Neunziger Jahre in seinem Büro im Europa-Center, in das mich der  Erfolg meines ersten Musicals gespült hatte. Das ist tatsächlich klassisches Kabarett „in a nutshell“ und war mir in den darauffolgenden vielen Jahren, in denen ich Nummern und Programme für Kabarettisten und Kabarett-Häuser geschrieben hab, ein extrem wertvoller Leitfaden. Natürlich hat sich der Kosmos des Kabaretts mittlerweile stark erweitert. Man kann, wenn man denn will oder soll, natürlich auch ganz andere Nummern schreiben. Aber das ist die Basis, von der alles kommt, und auf die man als Texter immer zurückkehren kann, besonders, wenn man mal nicht weiter weiß. Nochmals danke dafür, Herr Ulrich.

So, Pflicht erfüllt, Handwerk ebenfalls weitergereicht.