Die Schuhschrank-Depression

Schuhschrank

Es gibt Momente, in denen man sich unsagbar einsam fühlt. So einsam, dass es weh tut. So weh, dass man schreien möchte.
Ich stehe in solchen Augenblicken meist vor einem Problem, dass die geduldigste Gemahlin von allen mit ihren speziellen Talenten in Sekundenschnelle lösen könnte, es aber nicht tut, weil sie nicht da ist.
Wie gestern morgen, als sie gerade zur Arbeit geeilt war, und ich den Schuhschrank im Flur unserer Wohnung nicht aufbekam. An und für sich ist das nichts besonderes, ich habe mit dem Öffnen des Schuhschranks Probleme, seit wir hier wohnen, und das sind immerhin paarundzwanzig Jahre. Das Schloß des Schuhschranks klemmt, ich kann den Schlüssel meist nur eine halbe Umdrehung herumdrehen. Was kein Problem sein sollte. Einfach die flache Hand neben das Schloss legen, ein wenig Druck ausüben und der Schlüssel lässt sich problemlos umdrehen.
Jedenfalls wenn die geduldigste Gemahlin das tut. Wenn ich probiere, den Schuhschrank zu öffnen, klappt es entweder auf Anhieb, oder ich zerre rotgesichtig am Schlüssel herum, schlage so lange gegen die Tür, bis die Nachbarn sich beschweren, und beschließe meine Aktion meist mit einem wütenden Tritt gegen das infame Behältnis und einem energischen Hilferuf an meine liebe Frau.
Gestern hab ich dieses Programm wieder durchgezogen, allein der Hilferuf verhalte natürlich ungehört. Wie ich bereits schrieb, war die Adressatin nicht da. Was meine Verzweiflung vergrößerte, denn binnen einer Stunde musste ich den Schuhschrank öffnen. Dann hatte sich der Gasmann angesagt, um den Gaszähler auszutauschen, der im Schuhschrank angebracht ist. Zwar sind die Angestellten der Berliner Gasag als außergewöhnlich wendig und flexibel bekannt, aber den Austausch eines Gaszählers durch eine geschlossene Schuhschranktür – dazu würde es schon einen zu allem bereiten Gazprom-Aussendienstmitarbeiter mit KGB-Vergangenheit brauchen.
Die nächsten 55 Minuten würde ich gern aus meinem Gedächtnis streichen. Die Versuche, ein hartnäckig klemmendes Türschloss zu überwinden, den Wunsch, dem Schlüssel Gewalt anzutun gepaart mit der Angst, ihn dabei abzubrechen, die abseitigen Ideen zu alternativen Öffnungsstrategien, die durch mein verzweifeltes Hirn geisterten … an all das würde ich  mich gern nie wieder erinnern. Was mir jedoch nicht gelingen wird. Ich glaube, in den exquisiteren Alpträumen meiner nächsten Jahre wird mich der Augenblick verfolgen, in dem ich mich bei offenem Werkzeugkasten fragte, wie ich welche Säge wo ansetzen müsste, um das Schloss aus der Schuhschranktür heraussägen zu können.
Wie dem auch sei, 5 Minuten vor Eintreffen des Gasmanns ereignete sich das Wunder. Ausgepumpt, ratlos und verzweifelt hieb ich ein letztes Mal gegen die Tür, drehte gleichzeitig den Schlüssel… und plötzlich gab das Schloss seinen Widerstand auf, wie durch Butter drehte der Schlüssel rund und die Tür ging auf. Nachgerade orgiastisches Erleichterungsgefühl!
Hastig räumte ich den Schuhschrank aus, um dem Gasag-Spezialisten ungehinderten Zugriff auf den Zähler zu gewähren, stapelte unsere Schuhe im Wohnzimmer und pfiff fröhlich ein Liedchen vor mich hin. Ich hatte dem widerspenstigen Schuhschrankschloss ein Schnippchen geschlagen. Zum ersten Mal! Was für ein schöner Tag!
Da klingelte es auch schon. Typisch Gasag, pünktlich auf die Sekunde. Ich eilte zur Wohnungstür, und auf dem Weg dorthin, im Flur, schloss ich im Vorbeigehen eine unordentlich offen stehende Tür und drehte den Schlüssel herum. Als ich den Gasmann herein ließ, wurde mir klar, welche Tür ich gerade geschlossen hatte.

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