Flibbertigibbet

In den sechziger Jahren verbrachte meine Familie den Sommerurlaub meistens in Bournemouth. Schönes Seebad, toller Park (die „Lower Pleasure Gardens“), herrlicher Strand und zum Hotel musste man nur über die Straße gehen. Und die Eltern kauften mir englische Comics, damit ich Ruhe gab die Sprache lernte. Ich war gern in Bournemouth.

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Doch dann kam 1965. In Bournemouth regnete es Strippen, und so beschlossen meine Eltern, mit mir ins Kino zu gehen. In Bournemouth gingen sie gern mit mir ins Kino. In England durte man damals nämlich im Kino rauchen. Welcher Film gezeigt wurde, war ihnen einigermaßen wurscht. Hauptsache, der Film war jugendfrei, so dass ich mit rein durfte und sie eine Weile lang in Ruhe rauchen konnten. Der einzig jugendfreie Film, der 1965 in Bournemouth lief, war „The Sound of Music“.

Ich war damals acht Jahre alt. Ich interessierte mich für Batman und Fußball. Ich interessierte mich definitiv NICHT für singende Nonnen, österreichische Barone, ihre schwer erziehbaren Blagen  etc. pp. Spätestens als diese komischen Nonnen etwas von einer Maria sangen, die ein Flibbertigibbet sei, drehte ich augenrollend ab. Furchtbar. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich in diesem endlose drei Stunden langen Schinken gelangweilt habe.

Ein paar Tage später traf die damals über 70jährige Mrs. S. ein. Meine Eltern hatten Mrs. S. ein paar Jahre zuvor am Strand kennengelernt. Daraus war eine echte Freundschaft entstanden. Mrs. S. war eine stolze, mit knorrigem Humor gesegnete Walliserin, für die das Adjektiv „resolut“ erfunden worden war.

Mrs. S. erzählte nun, dass sie letzte Woche in ihrer Heimatstadt Cardiff mit ihrer Freundin im Kino gewesen sei, und einen ganz fantastischen, herzergreifenden Film gesehen habe, „The Sound of Music“. Der wäre auch was für kleine Jungs wie mich, viele Kinder auf der Leinwand, jede Menge Song and Dance, da hätte ich Spaß. Deshalb würde sie mich und meine Eltern gern ins Kino einladen. „Du sagst nicht, dass wir schon drin waren!“; zischte mein Vater mir zu, der es unhöflich fand, die Einladung auszuschlagen. Und so durfte ich mir die sterbenslangweiligen Umtriebe der trällernden Trapp-Famile ein zweites Mal anschauen. Immerhin wusste ich jetzt, dass die Tortur nach der Stelle mit dem Flibbertigibbet nur noch knapp zweieinhalb Stunden lang dauerte. Immerhin, als das Licht im Kino anging, meine Eltern ihre ZIgaretten ausmachten und Mrs. S. Ihr Taschentuch einpackte, war ich froh, diesen Film nie wieder anschauen zu müssen.

Ich Idiot. Ein paar Tage später kam Mrs. S.s Sohn Lance und seine Frau Margaret nach Bournemouth, um ein paar Tage mit ihr zu verbringen. Und – unglaublich, aber wahr – die kannten „The Sound of Music“ noch nicht. „You MUST see this movie!“, rief Mrs. S. „We‘ll go straight away. The boy will accompany us, he adores Julie Andrews…“ Wie? Was? „Ernest?1 Did Christopher just throw me a dirty look?“ – „No! No! He… he always looks a little peculiar when he‘s looking forward to something… Benimm dich, um Himmelswillen!“

Zu meinem eigenen Erstaunen hätte ich das Lied mit dem Flibberdigibbet tatsächlich mitsingen könne. Was ich natürlich nicht tat, sonst wäre Mrs. S. vielleicht auf die Idee gekommen, mit mir täglich in diesen schrecklichen Film zu gehen. Aber das Sound-of-Music-Maß war nach dem dritten Durchgang noch nicht voll. Als nämlich meine Schwester nachkam, um die letzte Urlaubswoche mit uns zu verbringen, erzählte sie Mrs. S. arglos, dass sie „Sound of Music noch nicht kannte. Noch bevor ich sie ein „dummes Flibbertigibbet“ nennen konnte, saß ich mit ihr und Mrs. S. schon wieder im Kino… Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, als die Ferien zu Ende gingen.

12 Stunden Sound of Music können den stärksten Mann aus den Socken hauen, und einen kleinen Jungen erst recht. Trotzdem habe ich diesen Sommer ohne weitere Nachwirkungen überstanden. Ein paar Jahre später habe ich sogar die Kraft gefunden, einmal nachzuschlagen, was „Flibbertigibbet“ eigentlich heißt. Man hat die Wahl zwischen dem freundlichen „Irrwisch“ und dem ehrlichen „alberne Person, die zuviel redet“. Tja, da fällt die Wahl nicht schwer. Übrigens hat dieses Wort sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Mittlerweile habe ich nichts mehr gegen den Film. Im Gegenteil, ich besitze sogar eine DVD, die ich anschaue, wenn ich betrunken oder sentimental oder beides bin. Dann geht die Post ab. »The Hiiiiiiiiiills are alive…«

Am 3. Januar 2018 um 14 Uhr läuft der Film wieder auf arte.

  1. Mein Vater hieß Ernst.