Ein bisschen sehr tragisch ist es schon, dass man zuerst an seine monumentalen Fehlleistungen denkt, wenn man sich an Jürgen Hingsen erinnert.
Die drei Fehlstarts über hundert Meter in Seoul, die ihn sofort aus dem Wettbewerb katapultierten… So, als wollte er sich absichtlich und möglichst unelegant aus dem Zehnkampf verabschieden, bevor der eigentlich begonnen hatte. Da hingen wir mit offenen Mündern vor der Glotze und fragten uns: „Kann man wirklich so doof sein wie Jürgen Hingsen?“
Und natürlich das Stabhoch-Drama in Los Angeles. Um Himmelswillen. Der bizarrste Stabhochsprung aller Zeiten. Da hingen wir mit offenen Mündern vor der Glotze und fragten uns: „Kann man wirklich so doof sein wie Jürgen Hingsen?“
Er machte es einem aber auch leicht, ihn doof zu finden. Sein nassforsches Auftreten („Ich bin der größte Athlet aller Zeiten.“) und der dämliche Pornobalken unter der Nase… Jürgen Hingsen wirkte nicht wie ein Ernst zu nehmendes Sportidol, sondern eher wie ein geltungsbedürftiger Krefelder Gebrauchtwagenhändler, der mal ordentlich auf den Putz hauen will.
Aber als ich für diesen kleinen Text ein wenig recherchierte, begann ich, Hingsen mit anderen Augen zu sehen. Um Himmelswillen, der Weltrekord, den er 1984 aufgestellt hat, ist ja noch immer Deutscher Rekord! Seit 24 Jahren war kein deutscher Zehnkämpfer besser als Hingsen. War wohl doch kein ganz schlechter.
Und wenn man sich an den Zehnkampf in Los Angeles vor dem Stabhochspringen erinnert, dann war das eine der spannendsten Sportveranstaltungen, denen ich je zugesehen habe. Daley Thompson (mit ähnlichem Oberlippenzierat wie Hingsen ausgestattet, war damals wohl Mode unter Mehrkämpfern) hat ständig vorgelegt, doch Hingsen hat stoisch gekontert und ist immer näher an ihn heran gerückt. Beim Diskus hatte er ihn beinahe, doch dann hat Thompson im letzten Versuch eine neue persönliche Bestweite aus dem Zylinder gezaubert. Knapp daneben ist auch verfehlt, dachten wir, aber es ist ja noch alles drin, es stehen ja noch drei Disziplinen aus. Was kommt als nächstes? Ach, Stabhochsprung…
Für viele bewegungsbegabte Sportler ist eine Karriere als Schauspieler in körperbetonten Action-Filmen eine logische Konsequenz, und als Hingsen nach den Spielen von Los Angeles eine Hauptrolle in einem neuen Meisterwerk aus der Siggi-Rothemund-Schmiede namens „Drei und eine halbe Portion“ angeboten wurde, griff er beherzt zu. Auch in diesem für ihn ungewohnten Metier verleugnete er sich nicht und drückte dem Wettkampf Film seinen eigenen Stempel auf.
Daley Thompson pflegte seinen Dauerrivalen übrigens gern als „Hollywood Hingsen“ zu bezeichnen. Jetzt wissen wir, warum.
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