Noch so ein kulinarisches Relikt aus versunkener Zeit: der Schlachtekohl. „Da, wo ich herkomme“ (also aus Nordhessen) pflegte man einmal im Jahr zu schlachten, auch wenn man kein Landwirt war. Mit einem solchen trat nämlich der schweinelose Haushaltsvorstand einmal jährlich in Verhandlung (eine hervorragende Ausrede, mit dem Landwirt soviel Schnaps zu trinken, bis weder Haushaltsvorstand noch Landwirt mehr wussten, wer jetzt wen über den Tisch gezogen hatte). Am Ende dieser Verhandlung stand ein Handschlag und eine Geldübergabe an den Landwirt, der sich im Gegenzug bereit erklärte, eine seiner wohlgeratenen, gesunden Sauen ins Jenseits zu befördern und die Überreste derselben unter tatkräftiger Mithilfe aller Mitglieder beider Familien in regionaltypische Spezialitäten (Ahle Worscht, grobe Bratwurst, Weckewerk, Sülze, Garwurst… usw.) zu verwandeln.
Am Schlachttag klingelte der Wecker zu unmenschlich früher Stunde, denn an einer ausgewachsenen Sau können sich auch viele Hände viele Stunden lang abarbeiten. Da wurden die verschiedensten Würste gemacht, Sülze und Schmalz hergestellt, Fleisch wurde eingeweckt… und das bei Bauern, die elektrisch betriebene Geräte für neumodischen Kram („Erst mal abwarten, ob sich das durchsetzt!“ Oder; direkter: „Warum soll ich denn für teuer Geld Geräte kaufen, wenn das die Fremden machen, die für die Sau bezahlt haben?“). Wer schon mal eine Weile an einer handbetriebenen Wurstmaschine gestanden hat, weiß, wie das schlaucht. Stundenlang in der Küche stehen, Gläser sterilisieren, Weckewerk kochen, Schmalz machen und Wurst einwecken ist auch keine ganze Kleinigkeit. Der Schlachttag führte einem von morgens bis abends vor Augen, dass gutes Essen mit Arbeit verbunden ist. Er führte einem aber auch vor Augen, dass es nach harter Arbeit eine Belohnung gibt, denn am Ende des Schlachttages gab es den Schlachtekohl, das gemeinsame Essen aller, die mitgearbeitet hatten.
Traditionell begann der Schlachtekohl mit einem Teller Wurstebrüh. Also einer Bouillon vom Schwein, in der die Würste und zahlreichen Fleischstücke im Lauf des Tages gekocht worden waren. Logisch, dass obenauf goldglänzende Fettaugen schwammen. Logisch, dass die Brühe ungeheuer reichhaltig war. Logisch, dass sie für Menschen, die Brühe aus Pulvern von Maggi und Knorr gewöhnt sind, vermutlich gewöhnungsbedürftig, etwas streng und vielleicht zu „schweinern“ schmecken würde. Für Menschen, die einen Tag lang im Dunstkreis der toten Sau gerackert hatten, schmeckte sie wie Manna, weckte ermüdete Lebensgeister und bereitete Gaumen und Seele auf die kommenden Attraktionen vor.
Da wäre zunächst einmal die frische Bratwurst zu nennen. Nur, wer einmal eine nordhessische grobe, ungebrühte Bratwurst gegessen hat, weiß, was für eine Delikatesse eine einfache Bratwurst sein kann. Und ärgert sich fortan schwarz, wenn er sieht, mit was für todgecutterten, fetttriefenden Ungetümen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes abgespeist werden, die an einem „normalen“ Imbiss eine Bratwurst bestellen.
Die Bratwurst für die Kinder, die am Schlachtekohl teilnahmen, war etwas besonderes. Sie war ihnen im Lauf des Tages „angemessen“ worden. Jedes Kind, das beim Schlachtekohl geholfen hat, wurde irgendwann neben die Wurstmaschine gestellt, und ein Stück Darm wurde ihm von einem Ohr zum andern angelegt und gleich mit Wurstmasse befüllt1. Das war die eigene Bratwurst, die man dann abends beim Schlachtekohl verzehrte.
Aber von einer Bratwurst wurde man nach so einem Tag natürlich nicht satt. Und folgerichtig kam mit und nach den Bratwürsten alles, was zur klassischen Schlachteplatte gehört: frische Blut- und Leberwürste, Wellfleisch, Speck, Frikadellen und Weckewerk, begleitet von mehligen Salzkartoffeln und würzigem Sauerkraut, das mit einer gehörigen Portion Schweineschmalz auf Höchstleistung getuned worden war. Das alles wurde mit größeren Mengen des besten Biers der Welt hinuntergespült, und Landwirt und Haushaltsvorstand genehmigten sich das ein oder andere Schnäpschen, um den Kreis endgültig zu schließen.
Anläßlich eines Schlachtekohls habe ich auch erfahren, woher das Wort „bauernschlau“ kommt. Es ist eine Bezeichnung für listige Landwirtinnen, die an der sich biegenden Tafel mit allen psychologischen Tricks arbeiten, um sich selbst und ihrer Sippschaft die besten Stücke zu sichern. Mit folgenden Worten trug eine wackere Landwirtsgemahlin aus dem Meißner Vorland die Platte mit den Würsten und dem Wellfleisch auf: „Das war nun unsere Suse… So ein treues Tier war sie, mit so einem lieben, sanften Blick. Als ich ihr gestern ihr letztes Futter gebracht hab, wie sie da geguckt hat… Ich schwöre, sie hat gewusst, was ihr bevorsteht.“ Klasse Idee, gnä‘ Frau! Auch blitzsauber durchgezogen. Wirklich ganz großes Tennis. Aber eine Spur zu durchsichtig. Wir haben reingehauen, als gäbe es kein morgen.
Herrlich! Aber ich glaube, „Wellfleisch†müsste den Außerhessischen erklärt werden
Hallo,
habe gerade bei *rettet das Mittagessen* diesen link zum Schlachtekohl entdeckt. Mensch, das waren noch Zeiten!!! Komme auch aus Nordhessen (Wanfried), ob du das kennst? Mir wurde auch immer eine Wurst angemessen und ich kann nur noch aus der Erinnerung von den Köstlichkeiten schwärmen. Das alles ist ca. 50 Jahre her und wenn ich heute in meine Heimat komme, gibt es das alles nicht mehr. Vielleicht noch ganz versteckt irgendwo. Die ahle Wurscht jedenfalls schmeckt längst nicht mehr so und die Bratwürstchen finde ich auch nicht mehr.
Gruß Ullrike
Natürlich kennt ein alter Eschweger Wanfried! Ich geb dir vollkommen recht, mit den Köstlichkeiten aus unserer Region ist’s bergab gegangen. Ich hab hier schon einmal den Qualitätsverlust bei der Dicken Rippe geklagt, ein Elend. Aber für Ahle Worscht und Bratwurst hab ich eine Adresse: http://www.ringgau-wurst.de/ Die Schmerhaut ist ein Gedicht!
eigentlich hatte ich hier schon reingeschrieben?
Egal, ist der Wurstversand zu empfehlen, schon getestet? Könnte mir ja mal eine Portion nach München kommen lassen !
Bei besagtem Wurstversand habe ich schon Stracke, Runde, Schmerhaut und (im Winter) frische Bratwurst bestellt und sehr genossen. Von den Fleischern, die verschicken, für mich der beste, das muss aber nix heißen. Würde zu einer Testbestellung raten, da die GEschmäcker doch verschieden sind. Wenn es dich mal nach Eschwege verschlägt: die Bratwurst von Mangold finde ich sehr gut, und Samstags auf dem Markt ist ganz oben ein Stand mit Ahler Worscht…
Gestern kam unsere Wurstbestellung! Beim öffnen schon der Duft nach hess. Wurst. Garwurst, Sülze und Rote im Darm sowie Weckewerk und Leberwurst in der Dose bestellt. Die erste Verkostung der Garwurst – KÖSTLICH!
Danke für den Tipp.
Gruß Ullrike
Freut mich, dass es schmeckt. Ich glaub, ich bestell auch noch mal. In diesen unsicheren Zeiten muss man ja bevorraten.:)
Eigentlich kann ich garnicht mitreden. Suchen sie einmal im Rheinland nach einem Metzger der noch schlachtet. Meine Wurzeln liegen aber bei Limburg/Lahn. Dort muss auch schon mit der Lupe suchen. Meine Erinnerung geht zwar in die Kindheit, wenn Vater aus der alten Heimat kam. Einen Rucksack und einen Koffer, kurz vor Weihnachten, voll mit Köstlichkeiten.
Die Schinken hingen noch bei Oma im Rauch, wurden im Frühjahr geholt.
Ein Metzger, im Heimatort von Georg Leber, ist aber heute noch die Reise wert. Da kommt die Erinnerung zurück.
Kein Jahr ist seit 1960 vergangen wo nicht mindestens einer aus unserer Familie mit einem gut gefüllten Kofferraum zurück kam.
Presskopf in der Blase „Herrgöttchen“, Stracke, Dürre, Runde, Blut- und Leberwurst, nur die Worschtsupp fehlt.
Wer das Rätsel mit Georg Leber löst und in der Nähe wohnt sollte es versuchen.