Der Akkord

Mein Leben teilt sich in die Zeit vor dem Akkord und nach dem Akkord. Die Rede ist von dem einleitenden Gitarrenakkord von „A hard day’s night“, gespielt von George Harrison auf einer 12seitigen Rickenbacker1 Es war der erste Beatles-Song den ich hörte, und er hat mein Leben verändert.

Ich war damals acht Jahre alt und hasste es, zum Friseur zu gehen. Denn der Friseur, zu dem man mich alle vier bis sechs Wochen schickte, im „Salon S.“ in der Friedrich-Wilhelm-Straße, ließ mir immer die abgeschnittenen Haare in den Nacken rieseln, wo sie ein fieses Juckwerk anrichteten. Ich versuchte mich, wann immer es ging, vor dem Friseurbesuch zu drücken, vergeblich. Mein Vater hielt auf Ordnung, der Junge musste mit anständigem Haarschnitt zur Schule gehen.

Dann las ich in unserer Lokalzeitung, der Werra-Rundschau, einen Artikel über „Pilzköpfe“. Damit waren Mitglieder einer englischen Musikgruppe namens „The Beatles“ gemeint, die im Verweigern von Friseurbesuchen offensichtlich wesentlich erfolgreicher waren als ich. Diese Musiker begannen, mich zu interessieren. Leider konnte ich mir die Musik, die diese Gruppe machte („Beat-Musik“, lt. Werra-Rundschau) nicht anhören. Über die Radioapparate unseres Haushalts waren nur der Hessische Rundfunk und die infamen Ost-Sender zu empfangen, der riesige Funkschatten, den der Hohe Meißner warf, verhinderte den Empfang von Sendern wie Radio Luxemburg, die dieser neuen Musik aufgeschlossener gegenüberstanden als der HR, der von morgens bis abends nur schwer erträgliche Schlagermusik absonderte.

Dann entdeckte ich im Schaufenster von „Musikhaus Schneider“2 diese Platte.

Die waren tatsächlich viel länger nicht beim Friseur gewesen als ich. Die Platte musste ich haben, klar. Aber damals kostete eine Langspielplatte bei Frau Schneider (und überall) satte 22 DM. Diese Summe schien zunächst unerreichbar für einen achtjährigen Jungen, der kein Taschengeld bekam3. Doch dann dachte ich ein wenig nach. Ich war – als Sohn in einem gut situierten bürgerlichen Haushalt – doch nicht ganz mittellos. Ich bekam immer wieder ein bisschen was zugesteckt, Geld für ein Eis oder eine Tüte Waffelbruch… Wenn ich anfing, das zu sparen, anstatt es sofort wieder auszugeben? Wenn ich 2 Mark im Monat zurücklegte, hätte ich nach elf Monaten die Platte. Eine lange Zeit, aber das Projekt bekam den Anschein von Machbarkeit. Wenn ich vielleicht noch etwas dazu verdienen könnte?

Am nächsten Morgen trat ich mit meiner konsternierten Mutter in durchaus komplexe Verhandlungen, die Tarife für meine freiwillige Mitwirkung in Haushaltsangelegenheiten über das übliche Maß hinaus festlegten4. Meine Mutter erwies sich als Unternehmerstochter als die erwartet harte Verhandlungspartnerin, ich zog als unerfahrener Verhandler erwartbar den kürzeren, aber – um das ganze abzukürzen – wenn ich mich richtig reinhängte, könnte ich „A Hard Day’s night“ in sechs Monaten kaufen.

Ich schaffte es in fünf. Frau Schneider staunte nicht schlecht, als ich eine imposante Menge Kleingeld auf ihrem Tresen deponierte, und, nachdem sie mein Erspartes zweimal nachgezählt hatte, händigte sie mir das erste Beatles-Album meines Lebens aus. Ich trug meinen Schatz nach Hause, schaltete die „Musik-Truhe“5 im Wohnzimmer ein, legte die Platte auf und senkte den Tonabnehmer ab. Dann kam der Akkord.

Er traf mich vollkommen unvorbereitet und stellte meine Welt in einer Hundertstelsekunde auf den Kopf. Bis ich diesen Akkord gehört hatte, war ich ein kleiner Junge gewesen, der darauf gedrillt wurde, still zu sein, jederzeit zu gehorchen und sich unterzuordnen. Georges Rickenbacker lehrte mich im Bruchteil einer Sekunde, dass es vollkommen okay war, laut zu sein. Unangepasst. Jung. Frech. Dass es mein Leben war, und dass das nicht unbedingt das sein musste, was mein Vater für mich vorgesehen hatte. Und dass ich in der grandiosesten aller Zeiten lebte, in der eine fantastische Musik wie diese gespielt wurde. Mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Mein Vater war ein ziemlich harter Knochen, mit dem ich in Zukunft einige ziemlich harte Kämpfe auszufechten hatte. Aber ich war siegesgewiss: Ich hatte ja die Beatles an meiner Seite6.

Eine Woche später nahm ich im „Salon S.“ im Friseurstuhl Platz und sagte: „Einmal Kämmen, bitte!“

  1. and with a little help from his friends …( https://en.wikipedia.org/wiki/A_Hard_Day%27s_Night_(song)#Opening_chord)
  2. das in den nächsten Jahren zum Fixpunkt meines musikalischen Universums werden sollte
  3. “Taschengeld? Du bekommst hier zu essen und zu trinken, soviel wie du willst. Wozu brauchst du Taschengeld?“ – „Naja, falls ich mir mal was kaufen möchte…“ – „Was willst du dir denn kaufen?“ – „Weiß nicht …“ – „Na, siehst du!“ – „Vielleicht so eine … Beatlesplatte?“ – „Beatles? Der Krach von diesen Langhaarigen? Kommt nicht in Frage, schlag dir das aus dem Kopf!“
  4. Meine üblichen täglichen Verrichtungspflichten (Tisch decken und abräumen, Geschirr abtrocknen etc.) musste ich zu meinem großen Verdruss weiterhin gratis verrichten.
  5. So hieß das damals wirklich
  6. Wo sie heute noch sind

Ein Gedanke zu „Der Akkord

  1. „Einmal Kämmen, bitte!“
    Klasse erzählt. Gutes lakonisches Ende. Chapeau.
    Erinnert sich noch jemand an den Film „Die Heartbreakers“ von Peter F. Bringmann mit Werner Hansch als Ansager/Moderator und Rolf Zacher als Prollvater …?

    Hach
    Gruß Jens

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