Vorgestern sah ich in der Kreuzbergstraße eine junge Frau, die telefonierte. Gleichzeitig versuchte sie, sich ihre Jeansjacke anzuziehen, ein Bonbon aus dem Papier zu wickeln und irgendwie ihre Umhängetasche irgendwo abzustellen, um noch eine Hand frei zu bekommen. Sah aus wie der Versuch, die Laokoongruppe als Solo-Performance nachzustellen. Großes Kino. Multi-Tasking am Telefon.
Da musste ich plötzlich an das Telefonbänkchen meiner lieben Mutter denken. Ja, meine Mutter hatte ein Telefonbänkchen. Das stand bei uns im Flur. Nicht im Wohnzimmer, denn im Wohnzimmer hat man miteinander geredet, gelacht, getrunken, das Wohnzimmer gehörte der Familie und den Freunden, der Rest der Welt und die Kommunikation mit ihm fanden außerhalb des Wohnzimmers statt, und deshalb standen das Telefon und sein Bänkchen im Flur.
Wenn ich meine Mutter angerufen habe, dann wusste ich, dass sie auf dem Bänkchen im Flur sitzen würde, wenn sie mit mir sprach. Ein Päckchen ihrer Zigaretten und ein Feuerzeug lagen immer griffbereit neben dem Telefon, so dass sie stets auch auf ein längeres Gespräch vorbereitet war. Und das wirklich schöne daran war, war, dass meine Mutter, wenn sie mit mir telefonierte, nichts anderes machte, als mit mir zu telefonieren. Sie führte ein Gespräch mit mir, sonst nichts. Nicht zuletzt deshalb waren das fast immer sehr gute Gespräche, die ich heute, über 16 Jahre nach ihrem Tod, immer noch sehr vermisse.
Wenn ich heute mit anderen Menschen telefoniere, machen sie alles mögliche, während ich mit ihnen spreche. Sie laufen durch Büro und Wohnung, räumen das Geschirr ein, kümmern sich um ihre Kinder, schlagen irgendwas im Internet nach, fragen mich, was ich gerade gesagt habe, weil sie mir nicht richtig zugehört haben… Ich will mich nicht beschweren. Ich mach ja das gleiche.
Aber ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob das so richtig ist mit dieser Multitasking-Kommunikation. Vielleicht wäre so ein Telefonbänkchen eine vernünftige Anschaffung.
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Moinn Chris,
daß ist ein schönes Bild mit Deiner Mutter. Zwei Menschen gehen so konzentriert miteinander um. Keine andere Angelegenheit stört Euer Gespräch.
Mein Telefonverhalten ist sehr eingeschränkt. Viel spielt sich bereits am Telefon ab. Am Handy, auch noch am Festnetz. Und gar nichts kommt vielleicht heraus dabei. Ich sehe alleinsitzende Männer oder Frauen an Tischen und in Eingängen Botschaften verschicken. Höre sie hektisch Verabredungen treffen, „um Himmels willen“, rufen, „mach das ja nicht! Das hab ich auch mal gemacht. Das mach gar nicht.“
Mein Befremden beim Begehen großer Städte nimmt von mal zu mal zu. Es scheint niemand seine Umwelt mehr wahrnehmen zu wollen. Vielleicht noch auf Reisen. Ich gehe selten auf Reisen, nicht sehr weit weg. In den Köpfen muß mittlerweile eine Ruhelosigkeit herrschen, daß ich selbst nicht weiß, ob’s nicht auch schon für mich ungut wird.
Will sich jemand mit mir unterhalten?