Splitterbrötchen (CXVI)

Unter anderem durch das Internet hat der Begriff „Basisarbeit“ eine vollkommen neue Dimension bekommen. Zu schade, dass ausgerechnet die neue Führungsspitze der SPD das noch nicht gemerkt hat.

Man muss nur laut sein, wenn man unrecht hat.

Und genau deshalb müssen wir das Urheberrecht vor denjenigen schützen, die es am lautesten verteidigen.

Geflissentlich rapportiert die Berliner Presse alles, was Jugendliche hierorts treiben: Alcopop-Party auf dem Spielplatz, besoffen auf dem Schulklo, Prügel auf dem Pausenhof. Da frage ich mich, was wir vor vierzig Jahren alles angestellt hätten, wenn man seinerzeit mit jedem Scheißdreck in die Werra-Rundschau gekommen wäre.

4 Gedanken zu „Splitterbrötchen (CXVI)

  1. Stimmt, vor 40 Jahren sah unsere Welt anders aus…

    Auszug aus dem Stern 1/2004, Seite 197:

    Und niemand hatte Schuld…

    Wenn du nach 1978 geboren wurdest, hat das hier nichts mit dir zu tun … Verschwinde! Kinder von heute werden in Watte gepackt …

    Wenn du als Kind in den 50er, 60er oder 70er Jahren lebtest, ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten! Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere Fingerchen. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir tranken Wasser aus Wasserhähnen und nicht aus Flaschen. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar. Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy dabei! Wir haben uns geschnitten, brachen Knochen und Zähne, und niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld außer wir selbst. Und keiner fragte nach „Aufsichtspflicht“. Kannst du dich noch an Unfälle erinnern? Wir kämpften und schlugen einander manchmal bunt und blau. Damit mussten wir leben, denn es interessierte den Erwachsenen nicht. Wir aßen Kekse, Brot mit Butter dick, tranken sehr viel und wurden trotzdem nicht zu dick. Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche und niemand starb an den Folgen. Wir hatten nicht: Playstation, Nintendo 64, X-Box, Videospiele, 64 Fernsehkanäle, Filme auf Video, Surround-Sound, eigene Fernseher, Computer, Internet-Chat-Rooms. Wir hatten Freunde. Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu deren Heim und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht klingeln und gingen einfach hinein. Ohne Termin und ohne Wissen unserer gegenseitigen Eltern. Keiner brachte uns und keiner holte uns … Wie war das nur möglich?

    Wir dachten uns Spiele aus mit Holzstöcken und Tennisbällen. Außerdem aßen wir Würmer. Und die Prophezeiungen trafen nicht ein: Die Würmer lebten nicht in unseren Mägen für immer weiter, und mit den Stöcken stachen wir nicht besonders viele Augen aus. Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen. Und keiner konnte sich verstecken. Wenn einer von uns gegen das Gesetz verstoßen hat, war klar, dass die Eltern ihn nicht aus dem Schlamassel heraushauen. Im Gegenteil: Sie waren der gleichen Meinung wie die Polizei! So etwas!

    Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit alldem wussten wir umzugehen.

    Und du gehörst auch dazu.

    Herzlichen Glückwunsch!

    Ende des Auszugs.

  2. Mittendrin – Asphaltgeschichten

    In der Straße, in der wir wohnten, da wohnte auch „Tex“ Hentschel. Als wir 1964 in das Haus Nr. 64 einzogen, war ich sechs Jahre alt. Und als wir von der Styrumer Straße wegzogen, siebzehn. In diese enge, graue Straße fiel spärlich ein Sonnenstrahl. Kein Haus oder Baum aber verdunkelte unserer Mietswohnung im dritten Stockwerk, denn der gegenüberliegende Schulhof der Moltkeschule ließ Platz für Licht und Luft.

    Sie fragen, ich antworte warheitsgemäß: „Bitte, in welcher Stadt befindet sich diese Straße?“ „In Oberhausen, direkt Alt-Oberhausen, einen Katzensprung weit entfernt vom Zentrum.“ Und für ganz Interessierte: „Tex war der beste Abwehrspieler, den RWO je hatte. Er wohnte 55, neben Möbel Kazmierczak. ´71 ist er von der Styrumer Richtung Belgien.

    In einem engen Radius von fünf Gehminuten von unserem Mietshaus entfernt, befand sich nicht nur die an sich gutbürgerliche Gaststätte Braustüberl, sondern auch dunklere Lokalitäten. Bars, die erst um 22 Uhr ihre Pforten öffneten, und in denen man für ein Pils aus der Flasche durchaus das dreifache hinblättern musste, als man es in gutbürgerlichen Gaststätten für ein Frischgezapftes zusammen zu tragen hatte. Im von Frau Palmeier geführten Bräustüberl verkehrte sozusagen Prominenz. Stadtbekannt war, dass sich am Wochenende nicht nur die gewitztesten Skatspieler, sondern gelegentlich auch lokale Fußballgrößen einen zur Brust nahmen. So auch „Tex“.

    Das Besondere, hinter den von Jalousien Tag und Nacht geschützten Fenstern des Nachtclubs „Schu“, direkt neben 64, waren die Pornofilme, die den Gäste geboten wurden. Ein schmutziger ebenerdiger Schuppen. Der Gastwirt Eckehard Scholl, dessen Lokal Grenzstube mein Vater gelegentlich aufsuchte, um auch hier mit gewitztem Skatspiel unsere klamme finanzielle Lage aufzubessern, war einer der nächtlichen Gäste dieses Animierbetriebs. Nicht selten stolperten von hier durch Alkohol enthemmte Gestalten das Stück Hermann-Albertz-/Friedenstraße entlang Richtung Maxim-Bar, oder auf die nicht zu verfehlende Flaßhofstraße zu, wo man dann hinterm Bretterzaun zeigen konnte, was man noch so drauf hat.

    „Du wissen, wo Puff?“

    „Bitte?“

    „Du wissen, wo Puff?“

    Es war eine Frage der Zeit, bis sich meine Scham verlor und ich den Ortsunkundigen, und zu dieser Zeit den meist italienischen Gastarbeitern, entsprechende Auskunft erteilen konnte: „ Keine fünfzig Meter. Auf der anderen Straßenseite, die zweite links, hinter der Bretterwand.“ Für diese präzise Angabe erhielt ich hier und dort einen Obolus von zwanzig Pfennigen. Uns Heranwachsenden war der Eintritt hinter die Bretterwand versagt, doch waren meine sexuellen Bedürfnisse zu dieser Zeit wenig ausgeprägt. Da konnte ich mich ganz meinem Ziel widmen, ein gefeierter Ballkünstler bei RWO zu werden. Nur hier lag meine große Zukunft, das war klar. Alles andere Nebensache.

    1969 war ein großes Jahr. RWO schaffte den Aufstieg in die Bundesliga und Jansen, Poll, Kock, Burda, Feuser, Schneider, Würges, Geisen, Dietz, Busch und die Gebrüder Impermeabile, von denen ich der Ältere bin, gründeten den Straßenclub Ruckzuck Moltkeschule. Der Asphaltboden des Schulhofs war unser Vereins- und Trainingsgelände. Der Tausch von Fußballbildern in den umliegenden Straßen erlebte einen Aufschwung. Ich gab Kock zwanzig Bildchen gegen die Aufnahme einer Kopfballszene, in der Lothar Kobluhn in der Luft schwebte. Die obere Styrumer, in der Höhe der Pferdemetzgerei Höffkes, hatten begeisterte Anhänger rotweiß getüncht. Ich spielte in der D-Jugend und besaß bereits eine ansehnliche Sammlung von Autogrammen, die den Tauschwert der Bildchen sehr erhöhten.

    An der Kreuzung Friedrich-Karl-/Hermann-Albertz, hier lag eben auch das Lokal Braustüberl, ereigneten sich viele schwere Autounfälle. Der Verkehr wurde später durch eine Ampelanlage gesichert. Eines Tages rauschte ein VW-Bus, die Vorfahrt missachtend in die Hermann-Albertz, kollidierte mit einem Pkw, überschlug sich und krachte auf dem Dach liegend gegen das Eckhaus, in dem Lydia Warnke wohnte. Vom Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stockwerk übersah sie das Südmarktgelände mit seinen langgezogenen Lagerhallen. Der hintere Teil war mit Kopfstein gepflastert. Einige der Hallen mit ihren Rolltoren wurden von den Händlern des Altmarktes genutzt. Der vordere, an der unfallträchtigen Kreuzung liegend, war ein staubiger Sandplatz.

    Zweimal jährlich, zu Ostern und im Herbst, kamen die Kirmesleute. Am Autoscooter hielten sich die Lederhosenrocker mit ihren Bräuten auf. An der Raupenbahn kreischten die Mädchen. Vom Kettenkarussell übersah man die Los- und Bratfischbuden. Einmal kam ein Zirkus und wir halfen gegen eine Freikarte beim Aufbau.

    Die Leuchtbuchstaben der Maxim-Bar lockten. Bis in die Abenddämmerung spielten wir auf dem Schulhof Fußball und regelmäßig schimpfte die dicke Hure aus dem Fenster über der Maxim herunter: „Wenn da unten jetzt nicht gleich Schluss ist, komm ich herunter und nehm euch den Ball weg!“ Dann lachten wir und kloppten weiter. Lydia war Animierdame in der Maxim, und diesen Geruch mochte man im Braustüberl nicht.

    Manchmal rissen uns die Stimmen der Nacht aus dem Schlaf. Betrunkene, Kopflose, lärmend, sich erbrechend und prügelnd. Bizarr gekleidete Frauen stolperten aus ihren Bordellzimmern. Schreiend, mit erhobenen Armen und geballten Fäusten hinter einem Schwein her.

    „Hast du die Nacht den Tullus wieder auf der Straße mitgekriegt?“

    Gelegentlich lag einer auf den Stufen vor unserer Haustür. Ein Haufen Elend, der am Abend vorher noch ein ganz Großer zu sein vorgab. Bernhard Satzki wohnte in der Flaßhofstraße, vor dem Bretterzaun. Ein scheuer Kerl: „Weiter dürfen wir nicht,“ sagte er, „was sich hinter dem Zaun abspielt…“

    http://impermeabile.wordpress.com/category/oberhausen/

    Mit den besten Grüßen
    Achim

  3. Ich bin ’60 geboren und ich weiß genau, wovon ihr schreibt. Mich packt gerade eine große Wehmut. Auch deshalb, weil ich einen Sohn habe, der das nie erlebt hat, wovon guess who schreibt. Schade!

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